Rz. 274
Der Täter muss "bei verständiger Würdigung der Sachlage" mit der Tatentdeckung rechnen, wenn er aufgrund der ihm nachweislich bekannten Tatsachen bei verständiger Würdigung der Sachlage den Schluss auf die Entdeckung der Tat hätte ziehen müssen. Die gesetzliche Beweisregel ersetzt somit nicht die Kenntnis von den Umständen, aus denen sich der Schluss auf die Tatentdeckung hätte ergeben müssen.
Im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit für den Tatbeteiligten ist aufgrund der Tatsache, dass es sich bei § 371 AO um einen persönlichen Strafaufhebungsgrund handelt, insoweit auf die persönlichen Fähigkeiten in Form der individuellen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit des jeweiligen Tatbeteiligten abzustellen. Fraglich ist somit, ob dieser konkrete Täter aufgrund seiner persönlichen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit in der konkreten Situation die Tatentdeckung erkennen musste.
Rz. 275
Nach Ansicht des 1. Strafsenats des BGH sind an die Annahme des "Kennenmüssens" keine hohen Anforderungen zu stellen. Daraus, dass die aktuelle Gesetzesfassung trotz zweier zwischenzeitlichen Änderungen des § 371 AO die Sperre jedoch unverändert subjektiv anknüpfen lässt, wird teilweise abgeleitet, dass der Gesetzgeber dieser Ansicht des BGH nicht folgt. Nach dieser Ansicht wäre zu erwarten gewesen, dass der Gesetzgeber, soweit er sich der Auffassung des BGH hätte anschließen wollen, das subjektive Element in § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO hätte streichen müssen. Da er dies nicht getan habe, solle dem subjektiven Element nach Ansicht des Gesetzgebers höhere Bedeutung als nach der Rechtsprechung des BGH zukommen.
Diese Begründung trägt jedoch nicht. Aus dem Handeln des Gesetzgebers ergibt sich lediglich, dass er das subjektive Element nicht völlig aufgeben will. Es wäre jedoch auch denkbar, dass er der Auslegung des BGH zustimmt und gerade deshalb keinen Änderungsbedarf sieht, was vor dem Hintergrund der sonstigen gesetzgeberischen Entwicklung des § 371 AO (vgl. Rz. 2) sogar deutlich näher liegen dürfte.
Rz. 276
Inhaltlich ist die Rechtsprechung des BGH allerdings wenig hilfreich, da nur klar ist, dass geringe Anforderungen an das subjektive Element des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO zu stellen sind, aber unklar ist, was das im Einzelnen bedeuten soll. Allerdings dürfte feststehen, dass es nicht erforderlich ist, dass der Beschuldigte sicher auf die Tatentdeckung schließen kann oder sie sich ihm aufdrängt, sondern bei ihm darf eine durchaus erhebliche Restunsicherheit verbleiben. Ein Rechnenmüssen liegt somit bereits vor, wenn ein Täter aufgrund der ihm bekannten Umstände konkrete Anhaltspunkte für eine Tatentdeckung hat, diese also für durchaus möglich, wahrscheinlich oder naheliegend hält, auch wenn eine gewisse Unsicherheit verbleibt.
Der Steuerfahndung lagen Unterlagen über Liechtensteiner Konten des Beschuldigten bei der Bank X vor, die Kontoauszüge, Gesprächsvermerke und Treuhänderverträge umfassten. Daraus war zu erkennen, dass er seine Steuerpflicht bzgl. der angefallenen Kapitalerträge kannte. Trotzdem hatte er keine entsprechenden Erklärungen abgegeben. In der Folgezeit erfährt er aus den Medien, dass die Steuerfahndung über entsprechende Unterlagen der Liechtensteiner Bank X verfügt und bereits bei verschiedenen anderen Beschuldigten deshalb durchsucht hat.
In diesem Fall liegen der Steuerfahndung ausreichende Informationen vor, um von einer Tatentdeckung zu sprechen, und dies war dem Beschuldigten auch bekannt. Folglich konnte er – insb. vor dem Hintergrund, dass an das subjektive Element nach der Rspr. des BGH keine hohen Anforderungen zu stellen sind – mit der Entdeckung seiner Tat rechnen, da er wusste, dass Daten seiner Bank vorlagen. Folglich greift in diesem Fall der Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO ein, und einer Selbstanzeige kommt keine strafaufhebende, sondern lediglich eine strafmildernde Funktion zu.