2.3.9.1 Allgemeines
Rz. 296
Durch § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO in der seit dem 1. 1. 2015 geltenden Fassung hat der Gesetzgeber in dogmatisch problematischer Weise für diejenigen Fälle, die vom Gesetzgeber gem. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bis 6 AO als Regelbeispiele für das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung bewertet werden, einen weiteren Sperrgrund geschaffen. § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO erfasst somit zunächst die Fälle des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 und 3 AO, die sich auf die Einschaltung von Amtsträgern beziehen. Der Fall, dass der Amtsträger seine Befugnisse oder seine Stellung zum Zweck der Steuerhinterziehung missbraucht, wird von § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AO erfasst, das "Spiegelbild" aufseiten des Stpfl., der die Mithilfe des Amtsträgers ausnutzt, von § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AO. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 AO erfasst hingegen die fortgesetzte Steuerhinterziehung unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege, die an den Tatbestand der Urkundenfälschung gem. § 267 StGB anknüpft. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO erfasst darüber hinaus die bandenmäßige Umsatz- und Verbrauchsteuerhinterziehung.
Der mit Wirkung zum 25.6.2017 eingefügte § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 6 AO ist anwendbar in Fällen der Einschaltung von Drittstaaten-Gesellschaften i. S. d. § 138 Abs. 3 AO. Indem sich § 398a AO auf § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO bezieht und damit die Erweiterung übernimmt, führt die Ergänzung des § 370 Abs. 3 S. 2 AO um die Nr. 6 zu einer Strafzuschlagsbewehrung, ohne dass § 398a AO einer textlichen Ergänzung bedurfte. Bei Selbstanzeigen in Drittstaat-Fällen ist somit stets die Entrichtung eines Strafzuschlags nach § 398a AO erforderlich, um ein Absehen von der Verfolgung zu erreichen.
Rz. 297
Liegt einer dieser besonders schweren Fälle der Steuerhinterziehung vor, so führt aufgrund der besonderen Strafwürdigkeit dieser Fälle eine Selbstanzeige i. S. d. § 371 AO nicht mehr zur Strafbefreiung, sondern es ist nur ein Absehen von der Verfolgung nach § 398a AO möglich.
Von § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO ist hingegen der besonders schwere Fall des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO nicht erfasst, der im Fall einer Steuerhinterziehung großen Ausmaßes eingreift. Insoweit greift § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO ein (Rz. 283ff.).
Rz. 298
Darüber hinaus erfasst § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO nach seinem klaren Wortlaut auch nicht die unbenannten besonders schweren Fälle der Steuerhinterziehung. Dass in diesen Fällen kein Ausschlussgrund eingreift, ist auch vor dem Hintergrund zutreffend, dass der Täter vor der späteren gerichtlichen Aburteilung – und somit auch bei Abgabe der Selbstanzeige – nicht wissen kann, ob ein solcher unbenannter besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung vorliegt.
2.3.9.2 Anwendung
Rz. 299
Aufgrund der vom Gesetzgeber in § 370 Abs. 3 AO gewählten sog. Regelbeispielstechnik ergeben sich allerdings Probleme für die Anwendung des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AO. Der Gesetzgeber hat Beispiele gebildet, bei deren Vorliegen i. d. R. (Indizwirkung) ein besonders schwerer Fall vorliegt. Trotz Vorliegen eines solchen Beispiels kann sich aber bei einer Gesamtwürdigung der Tatumstände und der Täterpersönlichkeit ergeben, dass diese Vermutung im Einzelfall nicht zutrifft und somit kein besonders schwerer Fall vorliegt. Es handelt sich folglich bei einem Regelbeispiel nicht um einen (Straf-)Tatbestand, sondern um eine Strafzumessungsregel. Die Regelwirkung entfällt somit, wenn strafzumessungserhebliche Tatumstände jeweils für sich oder in ihrer Gesamtheit so gewichtig sind, dass das Unrecht der Tat oder die Schuld deutlich vom Regelfall abweicht und deshalb die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint.
Rz. 300
Vor diesem Hintergrund müsste für jeden Tatbeteiligten und jede Tat jeweils gesondert unter Berücksichtigung aller strafzumessungserheblichen Tatumstände geklärt werden, ob ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung vorliegt – eine Prüfung, die eigentlich im Rahmen der Strafzumessung dem Richter obliegt. Wie auch im Rahmen des § 376 AO ist eine solche Einzelfallprüfung durch den jeweils mit der Selbstanzeige befassten Steuerberater, Anwalt, BuStra-Sachbearbeiter oder Staatsanwalt wenig sinnvoll und nur eingeschränkt aussagekräftig im Hinblick auf die spätere gerichtliche Entscheidung. Folglich bedarf es insoweit eines praxistauglichen vereinfachenden Vorgehens...