4.1 Grundlagen
Rz. 19
§ 385 Abs. 2 AO ist in der Gesetzessystematik unzutreffend eingeordnet. Die Vorschrift ist eine inhaltliche Ergänzung zu § 386 AO und regelt eine Kompetenzerweiterung für die Finanzverwaltung. Der Finanzbehörde werden hiernach im Strafverfahren auch die Ermittlungsbefugnisse wegen einer Straftat eingeräumt, die keine Steuerstraftat ist. § 385 Abs. 2 AO gilt aber ausschließlich für die Vorspiegelungsstraftat. Eine Ermittlungskompetenz für sonstige Straftaten, die keine Steuerstraftaten sind, wird durch § 385 Abs. 2 AO nicht begründet.
4.2 Betrugsrechtsprechung des BGH
Rz. 20
Gedankliche Grundlage des § 385 Abs. 2 AO ist die Rspr. des BGH, wonach bei einem solchen Sachverhalt, in dem der Steuervorgang zum Zweck der Täuschung erfunden wurde, keine Steuerhinterziehung, sondern Betrug vorliegen sollte. Die sich nach den Vorschriften der RAO ergebende Rechtsfolge, dass die Finanzbehörde einerseits insoweit keine strafverfahrensrechtlichen Ermittlungsbefugnisse hatte, andererseits im Hinblick auf das Steuergeheimnis gehindert war, der Staatsanwaltschaft die Straftat zu offenbaren, sollte durch Einfügung des § 385 Abs. 2 AO korrigiert werden.
Rz. 21
Der BGH hat seinen Rechtsstandpunkt zur Abgrenzung von Betrug und Steuerhinterziehung zunehmend verlassen. BGH v. 23.3.1994, 5 StR 91/94, wistra 1994, 194 hat die Betrugsrechtsprechung aufgegeben und auch im Fall eines vollständig fingierten Unternehmens mit vorgetäuschten Umsätzen zur Erlangung des Vorsteuerabzugs Steuerhinterziehung angenommen. § 385 Abs. 2 AO hat damit kaum praktische Bedeutung mehr.
4.3 Inhalt der Ermittlungskompetenz
Rz. 22
§ 386 AO räumt der Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 AO unterschiedliche Befugnisse im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ein. Die Kompetenzerweiterung hinsichtlich der Vorspiegelungsstraftaten gibt der Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 AO nur eine eingeschränkte Ermittlungskompetenz in der Rechtsstellung, die sie auch in einem von der Staatsanwaltschaft geführten Steuerstrafverfahren hat.
Rz. 23
Der Inhalt dieser Rechtsstellung wird bestimmt durch §§ 402, 403 AO. Aus dieser Verweisung folgt, dass § 385 Abs. 2 AO hinsichtlich des Ausschlusses des § 399 AO ungenau zitiert und sich die Ausschlusswirkung nur auf § 399 Abs. 1 AO bezieht, nicht aber auf § 399 Abs. 2 AO. Insbesondere haben die Finanzbehörden i. S. v. § 386 Abs. 1 AO dieselben Rechte und Pflichten wie die Behörden des Polizeidienstes. Es bleibt das Recht und die Pflicht zum ersten Zugriff und für Eilmaßnahmen. Die Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 AO hat nicht das Recht, das Verfahren durch Einstellung oder durch Antrag auf Erlass eines Strafbefehls abzuschließen, sondern hat gem. § 163 Abs. 2 StPO das Ergebnis ihrer Ermittlungshandlungen unverzüglich der zuständigen Staatsanwaltschaft zu übermitteln.
Rz. 24
Nach § 404 AO hat die Steuer- bzw. Zollfahndung im Strafverfahren wegen Steuerstraftaten die gleichen Rechte und Pflichten wie die Behörden des Polizeidienstes. Die Rechtsstellung der Beamten als Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft wird durch § 385 Abs. 2 AO nicht modifiziert. Die Ermittlungskompetenz wird nur auf die Vorspiegelungsstraftaten erweitert.
4.4 Begriff der Vorspiegelungsstraftat
4.4.1 Vorspiegelung eines Sachverhalts
Rz. 25
Nach § 385 Abs. 2 AO gelten die genannten Verfahrensbestimmungen teilweise entsprechend bei Verdacht einer Straftat, die unter Vorspiegelung eines steuerlich erheblichen Sachverhalts gegenüber einer Finanzbehörde oder einer anderen Behörde auf die Erlangung von Vermögensvorteilen gerichtet ist und kein Steuerstrafgesetz verletzt.
Das Tatbestandsmerkmal "Vorspiegelung" ist dem Betrugstatbestand entnommen...