3.1 Regelungsinhalt
Rz. 9
§ 393 Abs. 1 S. 2-3 AO kodifiziert eine Ausnahmeregelung zu der grundsätzlichen Selbstständigkeit des Besteuerungsverfahrens gegenüber dem Steuerstrafverfahren bzw. dem Bußgeldverfahren wegen Steuerordnungswidrigkeiten. Die Regelung gilt gem. § 410 Abs. 1 Nr. 4 AO für ein eingeleitetes Bußgeldverfahren entsprechend.
Rz. 10
§ 393 Abs. 1 S. 1, 4 AO hat für das Steuerstrafverfahren und Bußgeldverfahren nur deklaratorische Bedeutung . § 393 Abs. 1 S. 2 und 3 AO sind ausschließlich für das Besteuerungsverfahren bedeutsam. Die Regelungen sind demgemäß in dieser Vorschrift und diesem Gesetzesabschnitt falsch angesiedelt. Sie sind vielmehr dem Bereich der Mitwirkungsverweigerungsrechte bzw. vorrangig dem Bereich des Zwangsmittelverfahrens zuzuordnen.
Die Zulässigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen wird durch § 393 Abs. 1–3 AO nicht berührt, auch wenn dies im Rahmen eines Allgemeindelikts erfolgt, und die so erlangten Erkenntnisse anschließend der Finanzbehörde nach § 116 AO zur Verfügung gestellt werden.
Rz. 10a
§ 393 Abs. 1 S. 2 AO ist der gesetzliche Versuch, zum Schutz des am Besteuerungsverfahren beteiligten Stpfl. dessen Pflichtenstellung zu regeln, wenn neben dem Besteuerungsverfahren zugleich ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird und der Beteiligte sich deshalb bei Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten möglicherweise selbst strafrechtlich belasten würde. § 393 Abs. 1 S. 2 AO begründet für die Finanzbehörde in dieser Situation das Verbot der Zwangsmittelanwendung zur Durchsetzung der fortbestehenden Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren.
Rz. 10b
Der Rechtsschutz gegen die Verletzung des Zwangsmittelverbots durch die Finanzbehörde ist im Rahmen des Einspruchs gegen die Androhung des Zwangsmittels nach § 332 AO gegeben. Vorläufiger Rechtsschutz kann durch die Aussetzung der Vollziehung nach § 361 AO beantragt werden.
Rz. 11
Dieses Verbot greift nur ein, wenn der Stpfl. seine Mitwirkungspflicht nicht erfüllen will. Die freiwillige Erfüllung der Mitwirkungspflichten ist nicht ausgeschlossen. Gibt der Stpfl. nach ordnungsgemäßer Belehrung freiwillig Auskünfte, so können diese steuerlich stets auch zu seinen Lasten verwertet werden.
3.2 Normzweck
Rz. 12
Die Einleitung des Steuerstrafverfahrens und auch die Vermutung straf- bzw. bußgeldrechtlich relevanten Verhaltens lassen – auch wenn beide Verfahren nebeneinander geführt werden – die Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren grundsätzlich unberührt. Die Vermutung straf- bzw. bußgeldrechtlich relevanten Verhaltens begründen für den Beschuldigten oder Verdächtigen kein steuerliches Mitwirkungsverweigerungsrecht. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Beteiligten bei Gefahr der Selbstbezichtigung ist nicht in die AO übernommen worden, weil "sich für die Beweiserhebung und -würdigung unannehmbare Folgen ergäben". Nach dem gesetzgeberischen Willen haben im Besteuerungsverfahren die Mitwirkungspflichten gegenüber der individuellen Vertrauenssphäre Priorität. Hiernach bleibt die steuerliche Pflicht zur wahrheitsgemäßen Mitwirkung bestehen. Der Stpfl. wird durch das Steuergeheimnis und bei dessen Verletzung durch ein strafrechtliches Verwendungsverbot hinreichend geschützt.
Rz. 13
Eine Befreiung des Beschuldigten bzw. Angeklagten von der Erfüllung steuerlicher Pflichten kommt nicht in Betracht, da ihn dies wesentlich besser stellen würde als jeden redlichen Stpfl. Das GG gewährt auch keinen lückenlosen Schutz gegen einen gesetzlichen Zwang zur Selbstbelastung, da die durch Art. 2 Abs. 1 GG dem Bürger gewährte Rechtsposition ihre Grenzen an den normierten Rechten anderer findet. Es ist demgemäß verfassungsrechtlich unbedenklich, dass für das Verwaltungsverfahren in Steuersachen nach der ausdrücklichen Regelung des § 103 AO dem Beteiligten. oder den Personen, die nach §§ 34, 35 AO für diesen mitwirkungspflichtig sind, bei Gefahr der Selbstbelastung mit einer strafbaren Handlung kein Mitwirkungsverweigerungsrecht eingeräumt ist.
Rz. 14
§ 393 Abs. 1 S. 2 AO versucht einen Kompromiss, indem er die steuerlichen Pflichten bestehen lässt, steuerliche Zwangsmittel zur Pflichterfüllung gegen den Stpfl. jedoch ausschließt, soweit ein Steuerstrafverfahren eingeleitet ist oder ggf. einzuleiten wäre. Diese Regelung gewährleistet den Schutz des Stpfl. in dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß.
Faktisch erlangt der Stpfl. dadurch jedoch eine Rechtsposition, die einem Mitwirkungsverweigerungsrecht entspricht. Der formale Fortbestand d...