Rz. 77
Ein für das Steuerrecht zentrales Verfassungsproblem ist das des zeitlich rückwirkenden Erlasses eines belastenden Gesetzes. Als Oberbegriff bedeutet die Rückwirkung die normative Festlegung des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Rechtsnorm auf einen Zeitpunkt, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm Gültigkeit erlangt hat. Zum verfassungsrechtlichen Problemfall werden rückwirkende Rechtsnormen, soweit belastend, aufgrund der im Rechtsstaatsprinzip angelegten Rechtsguts der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – der auch das Vertrauen des Bürgers in den Bestand der (Steuerrechts-)Ordnung sichert – sowie der im Einzelfall betroffenen Grundrechte. Dabei gehören zu den belastenden Steuergesetzen auch solche, die eine Vergünstigung einschränken oder aufheben.
Rz. 78
Im Grundsatz dürfen belastende Steuergesetze ihre Wirksamkeit nicht auf bereits abgeschlossene Tatbestände erstrecken oder schützwürdiges Vertrauen in die bestehende günstige Rechtslage enttäuschen. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist allerdings nicht auf die Steuergesetze anwendbar. Bei der rückwirkenden Inkraftsetzung begünstigender Vorschriften ergeben sich hingegen in aller Regel keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Rz. 79
Aus einem einheitlichen Oberbegriff der "Rückwirkung" lassen sich allerdings keine hinreichend trennscharfen Maßstäbe ableiten. Nach der Rspr. des BVerfG ist bei rückwirkenden belastenden Steuergesetzen zwischen der echten Rückwirkung ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen") und der unechten Rückwirkung ("tatbestandlichen Rückanknüpfung") zu unterscheiden. Allein aus dem Oberbegriff einer "Rückwirkung" im weitesten Sinne lassen sich keine Verfassungsmaßstäbe herleiten.
3.2.1 Echte Rückwirkung
Rz. 80
Eine echte Rückwirkung ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen") liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Die echte Rückwirkung ist, weil das Vertrauen des Einzelnen auf den Bestand und das Bestehenbleiben einer Rechtslage verletzt wird, grundsätzlich mit der Verfassung unvereinbar. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Der von einem Gesetz Betroffene muss grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition durch eine zeitlich zurückwirkende Gesetzesänderung nicht verändert wird.
Rz. 81
Im Steuerrecht liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Bei der Einkommen- und KSt ist die Änderung von Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum als unechte Rückwirkung zu beurteilen; auf Eingriffe in abgeschlossene Sachverhalte bei anderen Abgaben ist diese Beurteilung jedoch nicht übertragbar.
Rz. 82
An dieser Abgrenzung von echter bzw. unechter Rückwirkung und die Anknüpfung an die Abgeschlossenheit des Veranlagungszeitraums hält das BVerfG trotz der daran geübten Kritik ausdrücklich fest. Damit bietet die jetzige BVerfG-Rspr. keine Basis für einen im Schrifttum vielfach geforderten (einheitlichen) dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff, dessen Ausgangspunkt die nicht abgeschlossene (nicht mehr rückgängig zu machende) Disposition des Stpfl. und nicht die Verhältnisse im späteren Zeitpunkt der Steuerentstehung sind. In der Sache räumt das BVerfG jedoch nunmehr für den Bereich der unechten Rückwirkung dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes einen wesentlich höheren Stellenwert ein (dazu Rz. 89 f.).
Rz. 83
Das grundsätzliche Verbot von Normen mit echter Rückwirkung erfährt Ausnahmen, sofern ein schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts fehlt. Insofern findet das Rückwirkungsverbot im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. In jedem Fall verlangt eine solche Ausnahme nach einer besonderen Rechtfertigung.
Rz. 84
In der Rspr. des BVerfG wird wegen Fehlens eines schutzwürdigen...