6.3.1 Ausdehnende Auslegung
Rz. 145
Fällt ein Sachverhalt oder eine Gruppe von Sachverhalten bei Anwendung des Normwortlauts nicht unter die Norm, ist jedoch nach der teleologischen Auslegung der Sinn und Zweck der Vorschrift weiter als ihr Wortlaut, so kommt eine ausdehnende Auslegung in Betracht. Diese ist noch keine Lückenausfüllung, sondern die Auslegung des Anwendungsbereichs der Norm. Umstritten ist, ob es Bereiche von Normen gibt, die einer ausdehnenden Auslegung nicht zugänglich sind. So wird teilweise angenommen, Ausnahmevorschriften seien eng auszulegen. Dem ist nicht zu folgen. Vielmehr gelten auch für Ausnahmevorschriften die allgemeinen Auslegungsregeln.
6.3.2 Auslegung von Vergünstigungsvorschriften
Rz. 146
Steuerbegünstigungsvorschriften sind weder unter dem Gesichtspunkt einer größtmöglichen Förderung weit noch buchstäblich eng auszulegen. Entscheidend für die Auslegung ist vielmehr, ob aus dem Gesetz heraus belegt werden kann, dass dieses den zur Entscheidung anstehenden Lebenssachverhalt begünstigt und die Vergünstigungsabsicht im Gesetz selbst Niederschlag gefunden hat. Bei der Auslegung einer Steuerbegünstigungsvorschrift ist daher stets der Begünstigungszweck zu berücksichtigen.
6.3.3 Auslegung von Vereinfachungsvorschriften
Rz. 147
Auch für Vereinfachungsvorschriften gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze. Die ausdehnende Auslegung einer Vereinfachungsregelung ist immer dann nicht ausgeschlossen, wenn der Vereinfachungszweck sie zulässt. Bei der Rechtsanwendung und bestehenden Zweifeln bezüglich einer Normauslegung kann der Gesichtspunkt der Praktikabilität als Auslegungshilfe herangezogen werden.
6.3.4 Schluss vom Mehr auf das Weniger
Rz. 148
Der Schluss vom Mehr auf das Weniger (argumentum a maiore ad minus) ist ebenfalls eine Auslegungsregel. Ihr hauptsächlicher Anwendungsbereich liegt jedoch im Bereich der Analogie zur Schließung von Gesetzeslücken (s. Rz. 177).
6.3.5 Wirtschaftliche Betrachtungsweise
Rz. 149
Im Steuerrecht, das sich weitgehend an wirtschaftlichen Verhältnissen orientiert, ist der wirtschaftliche Sinn der Vorschrift besonders bedeutungsvoll. Deswegen spielt die wirtschaftliche Betrachtungsweise, auch wenn in der AO eine dem § 1 StAnpG entsprechende Regelung fehlt, bei der Auslegung von Steuernormen eine bedeutende Rolle. Ihr Ziel besteht darin, Rechtsnormen nach ihrem wirtschaftlichen Sinn zu verstehen und anzuwenden. Insofern ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise als besondere teleologische Auslegungsmethode zwar keine Besonderheit des Steuerrechts, sondern gilt bei der Gesetzesauslegung ganz allgemein in dem Umfang, in dem die geregelten Rechtsfragen sich an wirtschaftliche Vorgänge anlehnen oder sich an solchen Vorgängen orientieren. Eine Art wirtschaftliche Betrachtung bringen die Steuergesetze selbst an vielen Stellen zum Ausdruck, so z. B. in § 39 AO (Zurechnung, wirtschaftliches Eigentum), §§ 40, 41 AO (Besteuerung bei Gesetzes- oder Sittenverstoß bzw. Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften), § 73 AO (Haftung bei Organschaft), § 74 Abs. 2 AO (wesentliche Beteiligung eines beherrschenden Nichtbeteiligten für Haftungszwecke), § 8 Abs. 3 KStG (verdeckte Gewinnausschüttung) und § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG (Organschaft).
Rz. 150
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht weist allerdings im Vergleich insbesondere zum Zivilrecht gewisse Besonderheiten auf, weil das Steuerrecht ein nebengeordnetes gleichrangiges Rechtsgebiet ist, das den Sachverhalt unter spezifisch steuerrechtlichen Wertungsgesichtspunkten beurteilt.
Rz. 151
Auf der Ebene der Sachverhaltsermittlung und -beurteilung verbindet sich mit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise das Gebot, einen verwirklichten Sachverhalt bzw. wirtschaftlichen Erfolg nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten der jeweiligen Steuerrechtsnorm zuzuordnen. Auf der Ebene der Auslegung der in einer Steuerrechtsnorm verwendeten Begriffe ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise regelmäßig möglich und geboten, sofern der Begriff spezifisch steuerrechtlicher Natur ist. Nach ihrem steuerrechtlichen Gehalt sind jedoch grundsätzlich auch solche steuerrechtlichen Tatbestandsmerkmale auszulegen, die einem anderen Rechtsgebiet und insbesondere dem Zivilrecht entnommen sind. Hier besteht weder eine Vermutung für ein übereinstimmendes noch für ein abweichendes Verständnis. Die Vorstellung einer prinzipiellen Identität des zivil- und steuerrechtlichen Begriffsinhalts ist damit überholt. Vielmehr ist im Rahmen einer autonomen steuerre...