Rz. 154
Die typisierende Betrachtungsweise ist keine Auslegungsmethode, sondern in ihrem Kern eine die Verwaltungstätigkeit vereinfachende Gesetzesanwendung. Sie zielt – ebenso wie gesetzliche Typisierungen und typisierende Verwaltungsvorschriften (dazu Rz. 116 f.) – auf einen effektiven gleichmäßigen Verwaltungsvollzug durch eine vom konkreten Einzelfall gelöste verallgemeinernde Beurteilung von Lebenssachverhalten. Eine solche typisierende Betrachtung fingiert also einen nicht oder nicht so gegebenen Sachverhalt, wie wenn er in der typischen Erscheinungsform vorhanden wäre. Die typisierende Betrachtung macht damit einen Normalfall absolut. Diese Betrachtung war stets umstritten, wenn sie sich außerhalb der Rechtsnorm selbst abspielt. Zu einer typisierenden Betrachtung insbesondere bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe sind auch die Gerichte berechtigt.
Rz. 155
Eine typisierende Betrachtung im Sinn einer absolut wirkenden Auslegung ist nach h. M. nicht zulässig. Der ausnahmslose Ausschluss eines steuerlich anzuerkennenden Arbeitsverhältnisses zwischen Ehegatten oder die Annahme, dass die Anschaffung eines enzyklopädischen Lexikons oder eines Fernsehgeräts nie Werbungskosten sein können, sind unzulässig. Die Unwahrscheinlichkeit bestimmter Gestaltungen darf nicht zu einem Ausschluss aller Fälle von entsprechenden steuerlichen Folgen führen, sondern kann höchstens erhöhte Anforderungen an den Nachweis des Vorliegens besonderer Umstände auslösen. Aus Verfassungsgründen sind besondere Nachweismöglichkeiten auch dann zu eröffnen, wenn z. B. die Belastungsfolgen typisierender Bewertungsvorschriften zu einem Verstoß gegen das Übermaßverbot führen.
Rz. 156
Von der typisierenden Betrachtungsweise zu unterscheiden ist der den unbestimmten Rechtsbegriffen zuzuordnende sog. Typusbegriff. Anders als bei einem durch abschließende Merkmale festgelegten sog. Klassenbegriff (z. B. "Minderjähriger" oder "Grundstück") ist ein als Typusbegriff aufzufassender Rechtsbegriff nicht durch einen abschließenden Katalog notwendiger Begriffsmerkmale gekennzeichnet. Solche höchst praxisrelevanten Typusbegriffe sind z. B. der "Mitunternehmer", das "Arbeitszimmer", das "Trinkgeld" oder die "wirtschaftliche Einheit".
Rz. 157
Der Typusbegriff ist auf der Ebene der Entscheidungsnorm angesiedelt. Er ist lediglich auf ein Gesamtbild mit verschiedenen Untermerkmalen ausgerichtet, von denen im konkreten Fall nicht alle erfüllt sein müssen. Damit ist der Typusbegriff in gewissem Maße merkmalsoffen und im Rahmen eines Ähnlichkeitsvergleichs auf eine wertende Zuordnung des jeweiligen Lebenssachverhalts angelegt. Methodisch steht der Typusbegriff damit der teleologischen Auslegung und dem Analogieschluss nahe.
Rz. 158
Die Verwendung von Typusbegriffen unterliegt zwar wegen der mangelnden Berechenbarkeit der Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall beachtlichen Einwänden im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und des Bestimmtheitsgrundsatzes steuerlicher Eingriffsnormen. An der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Typusbegriffe kann jedoch, nicht anders als an der Verwendung sonstiger unbestimmter Rechtsbegriffe, kein Zweifel bestehen. Auch sind derartige Begriffe, nicht nur im Steuerrecht, für die Rechtsanwendung kaum unverzichtbar. Zur Wahrung rechtsstaatlicher Standards ist daher zu fordern, dass gerichtliche Entscheidungen sowohl die Qualifikation eines Rechtsbegriffs als Typusbegriff als auch die Bestimmung und Gewichtung einzelner Untermerkmale des Typus eingehend begründen.