6.4.1 Verfassungskonforme Auslegung
Rz. 162
Lässt eine Vorschrift in Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden nach Wortlaut, Zweck, Gesetzeszusammenhang und Entstehungsgeschichte mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu, von denen nur eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist die zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führende Auslegung geboten. In diesem Fall erlangt mithin die Verfassung eine gegenüber den anderen Auslegungselementen vorrangige, letztlich der Einheit der Rechtsordnung verpflichtete Bedeutung. Für eine verfassungskonforme Auslegung können sämtliche Auslegungsmethoden einschließlich zulässiger Lückenfüllung (z. B. Analogie, teleologische Reduktion oder Extension) angewendet werden. Die Möglichkeiten der verfassungskonformen Auslegung sind insbesondere im Falle eines Vorlagebeschlusses an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG zu beachten; die Zulässigkeit einer solchen Vorlage setzt voraus, dass nach der Überzeugung des vorlegenden Gerichts eine die Verfassungswidrigkeit vermeidende verfassungskonforme Auslegung der jeweiligen Norm ausscheidet.
Rz. 163
Ausgeschlossen ist eine verfassungskonforme Auslegung, wenn ihr der eindeutige Wortlaut der Norm und der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers entgegensteht. Einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz darf nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Vorschrift nicht grundlegend neu bestimmt und das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden. Die verfassungskonforme Auslegung darf daher nicht unbesehen zur Korrektur eines als unbefriedigend erachteten Gesetzes zur Optimierung eingesetzt und dem Gesetzgeber ein so nicht gewolltes "aliud" der Norm aufgedrängt werden. Diese Grenze ist nicht erreicht, wenn ein weitergehender Wille des Gesetzgebers aus Verfassungsgründen lediglich beschränkt wird und der Norm ein vernünftiger, dem Gesetzeszweck nicht zuwiderlaufender Sinn verbleibt. Ist eine Norm nach Überzeugung des Gerichts verfassungswidrig, ist die Entscheidung des BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 GG einzuholen.
Rz. 164
In der Rechtspraxis bereitet die Bestimmung der der verfassungskonformen Auslegung gesetzten Grenzen erhebliche Probleme. Die vom BVerfG im Rahmen der Zulässigkeitsanforderungen einer Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG geforderten Darlegungen zum Ausschluss einer verfassungskonformen Auslegung begünstigen die Tendenz der Finanzgerichte, der möglichen Unzulässigkeit einer Vorlage durch eine extensive verfassungskonforme Auslegung der Norm auszuweichen. Geboten ist jedenfalls schon mit Rücksicht auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine restriktive Verwendung der verfassungskonformen Anwendung, weil andernfalls das mit dieser Rechtsfigur letztlich verfolgte Ziel, aus Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt "das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat", in sein Gegenteil verkehrt würde.
6.4.2 Unionsrechtskonforme Auslegung
Rz. 165
Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verlangt, dass die nationalen Gerichte das nationale Recht unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles in ihrer Zuständigkeit Liegende tun, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und damit zu einem Ergebnis zu gelangen das mit dem vom jeweiligen Rechtsakt verfolgten Ziel in Einklang steht. Das Institut der unionsrechtskonformen Auslegung ist Ausfluss des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und des aus Art. 4 Abs. 3 AEUV folgenden Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit.
Rz. 166
Praktisch wichtigster Anwendungsfall dieses Auslegungsgrundsatzes ist die richtlinienkonforme Auslegung. Diese leitet sich aus der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Umsetzung der Richtlinie ab; sie ist ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist anzuwenden. Im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung hat der Richter wie bei Fragen rein innerstaatlichen Rechts alle Methoden der Auslegung und Rechtsfortbildung anzuwenden und bei sich z. B. bei der Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck des einschlägigen Unionsrechts auszurichten. Die richtlinienkonforme Auslegung kommt nur in Betracht, wenn es im konkreten Fall verschiede...