Rz. 170
Ihre verfassungsrechtliche Grenze findet die Rechtsfortbildung stets im Gewaltenteilungs-, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Der Richter darf sich nicht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, damit dem Gesetzgeber vorbehaltene Befugnisse beanspruchen und sich damit der Bindung an Gesetz und Recht entziehen. Da die richterliche Rechtsfortbildung nicht die eigene Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen darf, lassen sich im Wege der Rechtsfortbildung insbesondere keine neuartigen Steuern bzw. Steuerbelastungen kreieren. Ganz allgemein scheidet eine Rechtsfortbildung bei einem sog. rechtspolitischen Fehler aus, aufgrund dessen eine gesetzliche Regelung nur rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist. Derartige Defizite können nach dem Prinzip der Gewaltenteilung allein vom Gesetzgeber beseitigt werden. Ausgeschlossen ist daher eine Gesetzesinterpretation, die den klaren Gesetzeswortlaut hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich bzw. wegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke nicht stillschweigend gebilligt wird. Ob eine Regelungslücke oder lediglich ein rechtspolitischer Fehler vorliegt, ist unter Heranziehung des Gleichheitssatzes zu ermitteln, wobei auf die Wertungen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes abzustellen ist. Dabei muss sich die Unvollständigkeit bereits aus der dem Gesetz immanenten Zwecksetzung ergeben und nicht aus einer kritischen Würdigung des Gesetzes.
Rz. 171
Praktisch bedeutsam ist insbesondere die Frage nach der Zulässigkeit einer steuerverschärfenden Rechtsfortbildung (insbesondere durch Analogie und teleologische Reduktion bzw. Extension). Eine steuermindernde (z. B. zu einer Steuervergünstigung führende) Rechtsfortbildung zugunsten des Stpfl. ist unproblematisch möglich. Ebenso ist bei Vorschriften des steuerlichen Verfahrensrechts eine Rechtsfortbildung zulässig; die für die steuerverschärfende Rechtsfortbildung geltenden Einschränkungen sind hier ohne Bedeutung.
Rz. 172
Die Zulässigkeit einer steuerverschärfenden Rechtsfortbildung ist in erster Linie ein Problem des Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts. In der Vergangenheit wurde vielfach von einem generellen Verbot steuerbegründender oder -verschärfender Rechtsfortbildung (Analogie) ausgegangen. Soweit die Rechtsfortbildung jedoch keine neuen, keine neuartigen Steuern bzw. Steuerbelastungen schafft, sondern lediglich gesetzesimmanenten Wertungen des gesetzten Rechts folgt, lassen sich gegen eine steuerverschärfende Rechtsfortbildung keine durchgreifenden Einwände erheben. Davon geht nunmehr auch die jüngere BFH-Rspr. aus. Sie hält eine steuerverschärfende Rechtsfortbildung für zulässig, wenn die Lückenausfüllung der Verwirklichung des Gleichheitssatzes dient und aus Gesetzeswortlaut oder -materialien eindeutig Rechtsprinzipien zur Lückenschießung zu entnehmen sind. Weder das Gebot der Rechtssicherheit noch Vertrauensschutzgesichtspunkte stehen dem entgegen, weil es kein generell schützwürdiges Vertrauen in die Lückenlosigkeit eines Normtextes gibt. Insbesondere bietet der "Wortsinn" einer Regelung keine hinreichende Grundlage für Vertrauensschutz, wenn die Lückenfüllung auf der Grundlage des Sinnzusammenhangs der jeweiligen Vorschrift für den Stpfl. vorhersehbar ist. Eine Beschränkung auf die Zulässigkeit einer zweischneidigen (für bestimmte Stpfl. vorteilhaften, für andere Stpfl. nachteiligen) Analogie ist sachlich nicht geboten.