Rz. 6
§ 42 AO soll den Geltungsanspruch des Steuergesetzes gegen Umgehung schützen. Für einen solchen Schutz besteht im Falle der Steuergesetze ein besonderes Bedürfnis, weil es in der Natur der Steuer als einer ohne konkrete Gegenleistung auferlegten Leistungspflicht liegt, dass sich die Stpfl. ihr nach Möglichkeit zu entziehen versuchen. Dies kann insbesondere dadurch geschehen, dass sie ihre rechtlichen Verhältnisse so gestalten, dass sich eine möglichst geringe steuerliche Belastung ergibt. Diese Gestaltungsfreiheit erkennt das Steuerrecht grundsätzlich an. Die Grenze zwischen der zulässigen Steuervermeidung und der unzulässigen Steuerumgehung wird jedoch überschritten, wenn künstliche Gestaltungen gewählt werden, deren Zweck allein in der Steuervermeidung oder Steuerminderung besteht.
Rz. 7
Durch eine am Gesetzeszweck ausgerichtete erweiternde Auslegung der Steuertatbestände lässt sich dem darin liegenden Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten allenfalls eingeschränkt begegnen. Denn jede Auslegung findet ihre Grenze in dem noch möglichen Wortsinn der Norm, der in den typischen Fällen der Umgehung überschritten werden müsste.
Rz. 8
Auch die analoge Anwendung der gesetzlichen Vorschrift stellt kein taugliches Mittel dar, um die Umgehung des Steuergesetzes zu verhindern. Abgesehen davon, dass die steuerbegründende oder steuerverschärfende Analogie im Hinblick auf den für staatliche Eingriffsakte geltenden Gesetzesvorbehalt nur mit Einschränkungen für zulässig gehalten wird, sind Steuerrechtsnormen aus methodischen Gründen einer Analogie nur eingeschränkt zugänglich. Unter Analogie versteht man die Übertragung einer in dem Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge auf einen Sachverhalt, der zwar nicht den Tatbestand des Gesetzes erfüllt, dem geregelten Sachverhalt nach der dem Gesetz zugrunde liegenden Wertung aber so ähnlich ist, dass seine Nichterfassung nur auf einer planwidrigen Regelungslücke beruhen kann. Die Feststellung einer solchen planwidrigen Regelungslücke setzt den Rückgriff auf die der analog anzuwendenden Vorschrift zugrunde liegende Sachgesetzlichkeit voraus. Jedenfalls bei sog. Finanzzwecknormen, deren Zweck sich in der Einnahmeerzielung erschöpft, lässt sich eine solche Sachgesetzlichkeit aber nicht ermitteln, weil die Entscheidung darüber, welche Sachverhalte der Besteuerung unterliegen, nur rein positivistisch getroffen und begründet werden kann.
Rz. 9
Deshalb enthalten die Einzelsteuergesetze vielfach Regelungen, mit denen die Steuerpflicht auf Gestaltungen erstreckt wird, die typischerweise zu ihrer Umgehung eingesetzt werden können. Allerdings kann der Gesetzgeber mit diesen Spezialregelungen jeweils nur punktuell und mit zeitlichem Verzug auf den Erfindungsreichtum der steuerrechtlichen Kautelarpraxis reagieren. Auch lässt sich nicht jede Umgehungsmöglichkeit in abstrakt-genereller Form umschreiben und damit gesetzlich erfassen.
Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber mit § 42 AO eine allgemeingültige Regelung zur Verhinderung der Steuerumgehung geschaffen. Sie lässt den Steueranspruch bei Vorliegen eines Gestaltungsmissbrauchs so entstehen, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht. Dies bedeutet, dass der Besteuerung nicht der tatsächlich verwirklichte, sondern ein fingierter Sachverhalt zugrunde gelegt wird. In dieser Sachverhaltsfiktion liegt der methodische Unterschied zur Analogie. Während die Analogie die im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge auf einen nicht unter seinen Tatbestand fallenden Sachverhalt überträgt, tauscht § 42 AO zur Herbeiführung der im Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge den tatsächlich verwirklichten durch einen fingierten Sachverhalt aus, der den Tatbestand des Gesetzes erfüllt.