2.1 Begriff der Gesamtschuld
Rz. 6
Voraussetzung für das Vorliegen einer Gesamtschuld ist, dass mehrere Personen nebeneinander zu derselben Leistung aus dem Steuerschuldverhältnis verpflichtet sind. Die Gesamtschuld ist damit ein den Steuergläubiger und mehrere Schuldner umfassendes Rechtsverhältnis, in dem die einzelnen Forderungen durch die Gemeinsamkeit des zu befriedigenden Gläubigerinteresses miteinander verbunden sind. Die Schuldner bilden dabei eine Tilgungsgemeinschaft, in deren Rahmen sich die im Zeitpunkt ihrer Entstehung inhaltsgleichen Forderungen des Steuergläubigers unterschiedlich entwickeln können.
Rz. 7
Bei den Personen, die dieselbe Leistung schulden, kann es sich um natürliche oder um juristische Personen, aber auch um Personengesellschaften und sonstige steuerrechtsfähige Personenzusammenschlüsse oder Vermögensmassen handeln. Ob und ggf. welche Rechtsbeziehungen zwischen diesen Personen bestehen, ist für das Vorliegen einer Gesamtschuld ohne Bedeutung. In der Regel werden die verschiedenen Gesamtschuldner aber auch außerhalb des steuerrechtlichen Gesamtschuldverhältnisses Rechtsbeziehungen zueinander unterhalten, z. B. der Schenker und der Beschenkte im Fall der Schenkungsteuer, der Veräußerer und der Erwerber im Fall der Grunderwerbsteuer oder der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer im Fall der Lohnsteuer.
Rz. 8
Die Verpflichtungen der verschiedenen Personen müssen sich auf dieselbe Leistung aus dem Steuerschuldverhältnis beziehen, aber nicht notwendigerweise denselben Entstehungsgrund haben. Auch ist das Vorliegen einer Gesamtschuld nicht von der verwaltungsaktförmigen Festsetzung der Leistungspflicht abhängig. Das Vorliegen der Gesamtschuld bietet vielmehr die materiellrechtliche Grundlage dafür, dass die zur Verwirklichung des Anspruchs erforderlichen Verwaltungsakte gegenüber den einzelnen Gesamtschuldnern erlassen werden können.
Rz. 9
Nach dem Wortlaut des § 44 Abs. 1 S. 1 AO liegt eine Gesamtschuld vor, wenn mehrere Personen dieselbe Leistung nebeneinander schulden. Ob diesem Merkmal selbständige Bedeutung zukommt, ist umstritten.
Zivilrechtlich ist die Annahme einer Gesamtschuld davon abhängig, dass die verschiedenen Verpflichtungen auf der gleichen Stufe stehen. Daran fehlt es, wenn einer der Beteiligten nur subsidiär oder vorläufig für eine andere Verpflichtung eintreten muss, wie es etwa dann der Fall ist, wenn der Geschädigte neben dem Anspruch gegen den Schädiger einen Anspruch gegen einen Versicherer, Sozialversicherungsträger, Arbeitgeber oder Unterhaltspflichtigen hat.
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass das Erfordernis der Gleichstufigkeit auch für die steuerrechtliche Gesamtschuld gelte. Aus diesem Grunde seien Steuer- und Haftungsschuldner nicht als Gesamtschuldner i. S. v. § 44 AO anzusehen, denn die Haftungsschuld sei gegenüber der Steuerschuld akzessorisch. Demgegenüber geht der BFH in st. Rspr. davon aus, dass Steuerschuldner und Haftungsschuldner Gesamtschuldner sind.
Rz. 10
Praktische Bedeutung hat diese Frage im Hinblick darauf, ob sich der Untergang der Steuerschuld nur in den Fällen des § 44 Abs. 2 S. 1 AO (Erfüllung und Aufrechnung) auf die Haftungsschuld auswirkt oder der Bestand der Haftungsschuld stets vom (Fort-)Bestand der Steuerschuld abhängig ist.
U. E. ist der Auffassung des BFH zu folgen. Der Wortlaut des § 44 Abs. 1 S. 1 AO steht ihr nicht entgegen. Die Worte "dieselbe Leistung schulden [...] oder für sie haften" führen nicht zwingend zu dem Schluss, dass die verschiedenen Personen jeweils entweder schulden oder haften müssen, sondern lassen auch die Auslegung zu, dass es ausreicht, wenn die eine Person die Leistung schuldet und die andere für sie haftet. Auch die Akzessorietät der Haftungsschuld steht der Annahme eines Gesamtschuldverhältnisses nicht entgegen. Die mit diesem Begriff beschriebene Abhängigkeit von der Steuerschuld gilt uneingeschränkt nur für die Entstehung der Haftungsschuld. Im weiteren Verlauf können sich Steuer- und Haftungsschuld jedoch unterschiedlich entwickeln. Der Erlass eines Haftungsbescheids ist nach § 191 Abs. 3 S. 4 AO nicht von der vorherigen Festsetzung der Steuerschuld abhängig. Nach § 191 Abs. 5 S. 1 AO kann ein Haftungsbescheid zwar nicht mehr ergehen, wenn die Steuer gegen den Steuerschuldner innerhalb der Festsetzungsfrist nicht festgesetzt worden oder durch Zahlungsverjährung oder Erlass erloschen ist. Die Rechtmäßigkeit eines bereits zuvor erlassenen Haftungsbescheids wird hierdurch aber nicht berührt.
Dass Zahlungen, die nach Bestandskraft des Haftungsbescheids auf die Steuerschuld geleistet werden, Anlass zum (teilweisen) Widerruf des Haftungsbescheids nach § 131 Abs. 1 AO geben können, ergibt sich aus § 44 Abs. 2 S. 1 AO und steht der Annahme eines Gesamtschuldverhältnisses nicht entgegen. Die Regelung des § 219 S. 1 AO, dass ein Haftungsschuldner auf Zahlung grundsätzlich nur in Anspruch genommen werden darf, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des S...