Rz. 6

Nach ganz überwiegender Ansicht wird der Verschollene, solange er nicht durch rechtskräftigen Beschluss für tot erklärt worden ist, als lebend behandelt[1], und zwar auch dann, wenn die Todesfeststellung nur mangels eines Antrags unterbleibt.[2] Das Fehlen der Todesfeststellung begründet danach eine unbegrenzte Lebensvermutung für den Verschollenen.[3]

Nach anderer Ansicht beschränkt sich der Regelungsgehalt des § 49 AO auf den Fall, dass ein Beschluss über die Todeserklärung ergeht. Nur für diesen Fall schiebe die Vorschrift den darin festgestellten Todeszeitpunkt für Zwecke der Besteuerung auf die Rechtskraft des Beschlusses hinaus. Zivilrechtlich stelle § 10 VerschG unter Bezugnahme auf die Fristen des § 9 VerschG nur eine begrenzte Lebensvermutung auf. Nach deren Ablauf müsse derjenige, der sich auf das Fortleben des Verschollenen berufe, dieses beweisen, umgekehrt derjenige, der aus dem Ableben Rechte herleite, den Eintritt des Todes beweisen. Von dieser Rechtslage sei auch für Zwecke der Besteuerung auszugehen.[4]

U. E. ist der h. M. zu folgen. Die einleitenden Worte "bei Verschollenheit" sprechen dafür, dass § 49 AO eine für alle Fälle der Verschollenheit geltende Regelung trifft. Hätte sich sein Anwendungsbereich auf den Fall beschränken sollen, dass eine Todeserklärung tatsächlich erfolgt ist, hätte der Gesetzgeber dies unschwer durch eine entsprechende Anknüpfung (z. B. "Wird ein Verschollener für tot erklärt, ...") zum Ausdruck bringen können. Der allgemein gehaltene Wortlaut der Vorschrift spricht daher dafür, dass § 49 AO eine Regelung nicht nur für den Fall der Todeserklärung, sondern auch eine solche für den Fall ihres Unterbleibens trifft, sodass der Verschollene bis zur Rechtskraft des Beschlusses als lebend zu behandeln ist. Für dieses Normverständnis spricht auch der mit der Vorschrift verfolgte Zweck (s. Rz. 1). Könnte die Finanzbehörde den Verschollenen nach Ablauf der sich aus § 10 VerschG ergebenden Fristen unabhängig von einem Beschluss nach § 23 VerschG als tot behandeln, müssten auf dieser Grundlage ergehende Steuerbescheide bei einer späteren Nachholung der Todeserklärung wieder aufgerollt werden. Eben dies soll durch § 49 AO vermieden werden.

 

Rz. 7

Die sich aus § 49 AO ergebende Rechtsfolge, dass der Verschollene bis zur Rechtskraft der Todeserklärung als lebend zu behandeln ist, hat in materiell-rechtlicher Hinsicht zur Folge, dass dem Verschollenen die steuerlichen Konsequenzen der bis zum Eintritt der Verschollenheit von ihm selbst oder danach für ihn durch Vertreter verwirklichten Tatbestände zugerechnet werden.

Bei der Beteiligung an einer Personengesellschaft sind ihm die Gewinnanteile daraus so lange zuzurechnen, wie er zivilrechtlich als Gesellschafter behandelt wird.[5] Trifft der Vertreter des Verschollenen mit den übrigen Gesellschaftern vertragliche Vereinbarungen, die der Tatsache der Verschollenheit Rechnung tragen, etwa durch Umwandlung seines Kapitalanteils in ein Darlehen, sind diese steuerlich mit der Maßgabe zu beachten, dass der Verschollene noch gelebt hat und Bezieher der jeweiligen Einkünfte gewesen ist.[6]

Auch eine von dem Verschollenen eingegangene Ehe ist bis zur Rechtskraft der Todeserklärung als fortbestehend anzusehen[7], sodass ungeachtet der Verschollenheit eine Zusammenveranlagung zur ESt mit dem bisherigen Ehegatten[8] in Betracht kommt.[9] Ob und ggf. wie lange die Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht beider Ehegatten[10] und des Nicht-dauernd-Getrenntlebens[11] als erfüllt angesehen werden können, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Eingehung einer neuen Lebensgemeinschaft durch den anderen Ehegatten steht dem Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft mit dem Verschollenen entgegen.[12] Unabhängig davon kann bei mehr als 20-jähriger Verschollenheit grundsätzlich nicht mehr vermutet werden, dass die Eheleute nicht dauernd getrennt leben.[13]

§ 49 AO gilt auch für die ErbSt.[14] In Erbfällen für tot erklärter Personen ist daher statt des im Todeserklärungsbeschluss festgestellten Todeszeitpunkts der Tag maßgebend, mit dessen Ablauf der Todeserklärungsbeschluss rechtskräftig wird.[15] Demgegenüber kommt es für die Beurteilung der Frage, ob der Verschollene Erbe eines Dritten geworden ist, weil er bei dessen Tod noch gelebt hat, auf den im Beschluss über die Todeserklärung festgestellten Todeszeitpunkt an.[16] Denn § 49 AO ist nur für die steuerlichen Folgen der Todeserklärung des Verschollenen, nicht aber für die Beurteilung zivilrechtlicher Fragen maßgebend, die für die Besteuerung von Bedeutung sind.[17]

Rz. 8 einstweilen frei

 

Rz. 9

In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat § 49 AO zur Folge, dass der Verschollene bis zu dem in § 49 AO bestimmten Zeitpunkt Inhaltsadressat der ihn betreffenden Steuerbescheide bleibt. Soweit keine anderweitige Empfangsvollmacht besteht, sind diese einem – ggf. für diesen Zweck zu bestellenden – Abwesenheitspfleger[18] bekanntzugeben. Bei der Beteiligung an Einkünften, die von mehreren Personen...

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