Prof. Dr. Bernhard Schwarz †
Rz. 13
Abs. 2 enthält zwei selbstständig nebeneinander stehende Ausnahmeregelungen zur grundsätzlichen Haftung nach Abs. 1. In beiden Fällen darf derjenige, für den die unter §§ 34, 35 AO fallende Person handelt, aus der Tat keinen Vermögensvorteil (zu diesem im Einzelnen Rz. 14–16) erlangt haben. Zwar ist die Voraussetzung des Fehlens eines Vermögensvorteiles ausdrücklich nur in Abs. 2 S. 1 hinsichtlich der Haftung natürlicher Personen für ihre gesetzlichen Vertreter genannt. Dennoch ist diese Voraussetzung auch beim Haftungsausschluss nach Abs. 2 S. 2 für die Taten anderer Personen nach §§ 34, 35 AO neben der der sorgfältigen Auswahl und Beaufsichtigung zu erfüllen. Das ergibt sich zwar nicht eindeutig aus der nur auf die Rechtsfolgen hindeutenden Verweisung "Das Gleiche gilt", ist jedoch vom Gesetzgeber so gewollt. § 70 Abs. 2 S. 1 AO ist nämlich gegenüber dem allgemein geltenden Ausschluss nach Abs. 2 S. 2 nur als vereinfachter Haftungsausschluss für die Taten gesetzlicher Vertreter natürlicher Personen gedacht. Da diese Personen sich den gesetzlichen Vertreter nicht aussuchen können, können von ihnen nicht zusätzlich zum Fehlen eines Vermögensvorteils eine sorgfältige Auswahl und Beaufsichtigung gefordert werden.
4.1 Fehlen eines Vermögensvorteils
Rz. 14
Die Haftung tritt nicht ein, wenn der Vertretene aus der Tat keinen Vermögensvorteil erlangt hat. Der Vertretene, nicht dagegen der Vertreter (z. B. nach Veruntreuung des Vorteils), muss einen Vermögensvorteil erlangt haben. Als Vermögensvorteil ist dabei nicht der Steuervorteil im rechtlichen Sinn, sondern jede Verbesserung bzw. jede unterbliebene Verschlechterung der wirtschaftlichen, finanziellen Lage zu verstehen, die durch die Tat unmittelbar hervorgerufen worden ist oder ohne die Tat nicht eingetreten wäre. Auf den Umfang des Vorteils kommt es nicht an. Auch bei einem verhältnismäßig geringen Vermögensvorteil greifen die Haftungsausschlüsse des Abs. 2 nicht mehr, so dass dann vollen Umfangs, also in Höhe des vollen Steuervorteils, gehaftet wird. Der Vorteil muss unmittelbar dem Vermögen des Vertretenen zugute gekommen sein. Mittelbare Vorteile reichen nicht aus. Vermögensvorteile bei nahe stehenden Personen des Vertretenen sind also, wenn sie nicht zugleich seine Vermögensvorteile sind, nicht ausreichend. Keinen Vermögensvorteil hat die vertretene Person erlangt, wenn entweder ein solcher von Anfang an nicht vorhanden war oder aber nachträglich weggefallen ist (s. Rz. 16).
Rz. 15
Dieser Begriff des Vermögensvorteils, den die AO im Zusammenhang mit einem Steuerdelikt auch in § 169 Abs. 2 S. 3 AO verwendet, ist nur scheinbar identisch mit der Auslegung des BGH zur Formulierung "zu seinen Gunsten" bei den Voraussetzungen einer wirksamen Selbstanzeige in § 371 Abs. 3 AO. Nach § 370 Abs. 4 S. 4 AO ist eine Steuerverkürzung auch dann gegeben, wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt werden können. In diesem Fall hat der Steuerhinterzieher die Steuer trotz der Minderungsmöglichkeit "zu seinen Gunsten" hinterzogen. Ein Vermögensvorteil wäre in diesem Fall nicht gegeben. Deswegen fehlt es an einem Vermögensvorteil des Vertretenen, wenn der Vertreter die Tat im Zusammenhang mit Manipulationen (z. B. Unterschlagungen, Untreue) begangen hat, die ihm sofort oder später zu Lasten des Vertretenen wirtschaftliche Vorteile gebracht haben.
Ein Vermögensvorteil ist dagegen auch dann gegeben, wenn der Vertretene einen ihm zugekommenen Geldbetrag bzw. ein bei der Finanzbehörde stehendes Guthaben nicht genutzt hat, wenn er durch die Tat auf die Inanspruchnahme eines Kredits verzichten konnte oder verbesserte Zahlungsbedingungen (z. B. durch Stundung) erhalten hat.
Rz. 16
Ist der ursprünglich vorhanden gewesene Vermögensvorteil vor der Haftungsinanspruchnahme entfallen, so ist auch der Haftungsausschluss eingetreten. Da der Sinn der Haftung des Vertretenen nach § 70 AO für das Verhalten seines Vertreters nur der Gesichtspunkt des Vorteilsausgleichs ist, muss die Haftung im Fall der Entreicherung in entsprechender Anwendung des Gedankens des § 818 Abs. 3 BGB entfallen. Dabei kommt es im Fall des Abs. 2 S. 1 nicht auf ein Verschulden an. Eine "Entreicherung" i. d. S. liegt vor, wenn gerade der durch die Straftat erlangte Vermögensvorteil nicht mehr vorhanden ist und der Vertretene hierfür kein Surrogat, keine Nutzungsvorteile und keinen Ersatzwert erlangt bzw. Ausgaben erspart hat, die er notwendig auch sonst gehabt hätte. Der Wegfall des Vermögensvorteils ist als Ausnahme zu seinen Gunsten vom Vertretenen zu beweisen.