Prof. Dr. Bernhard Schwarz †
2.1 Allgemeines
Rz. 20
Die Duldungspflicht des Verwalters nach § 77 Abs. 1 AO ist eine selbstständige und originäre steuerliche Duldungspflicht, die durch die Finanzbehörde mittels Duldungsbescheids festgestellt wird. Die Kodifizierung schafft damit eine materielle Voraussetzung für die Vollstreckung von Steuern. Unter diesem Gesichtspunkt ist sie gesetzessystematisch wohl dem Vollstreckungsteil zuzuordnen. Da jedoch die Duldungspflichten inhaltlich als Unterfall der Haftung anzusehen sind (s. Rz. 7), erscheint die Zuordnung des § 77 AO zu den materiellen Haftungsvorschriften als durchaus vertretbar.
2.2 Verwaltung von Vermögen
2.2.1 Vermögen
Rz. 21
Die Duldungspflicht nach § 77 Abs. 1 AO knüpft an die "Verwaltung von Mitteln" an. Diese Mittel werden sodann als "Vermögen" bezeichnet. Die Inhaltsbestimmung dieses Begriffs "Vermögen" hat sich am vollstreckungsrechtlichen Zweck der Norm zu orientieren. Vermögen ist ein Inbegriff von Sachen und Rechten, allerdings hier nur das Aktivvermögen, aus dem sich der Vollstreckungsgläubiger befriedigen kann.
2.2.2 Verwaltung
Rz. 22
Der Begriff der "Verwaltung" von Vermögensgegenständen (s. Rz. 21) folgt ebenfalls aus dem vollstreckungsrechtlichen Zweck der Norm. Hieraus ergibt sich zum einen, dass es sich um die Verwaltung fremder Vermögensgegenstände handeln muss. Fremd i. d. S. bedeutet, dass die Gegenstände rechtlich ganz oder teilweise der Vermögenssphäre des Schuldners der eigentlichen steuerlichen Leistungspflicht zuzurechnen sind. Es muss also eine Steuerschuld desjenigen bestehen, dessen Vermögen von einem anderen verwaltet wird. Dies kann auch der Fall sein, wenn der Vermögensgegenstand zwar Eigentum des Verwalters, aber mit einem Recht zugunsten des Leistungspflichtigen belastet ist. Eigenes Vermögen eines gesetzlichen Vertreters fällt ebenfalls nicht hierunter.
Rz. 23
Der Begriff "Verwaltung" beinhaltet zum anderen, dass der Verwalter Gewahrsamsinhaber hinsichtlich des verwalteten Vermögens ist, in das die Vollstreckung zu dulden ist. Gewahrsam ist der unmittelbare Besitz, der hier i. d. R. in Form des Fremdbesitzes vorliegen wird. Dieser Duldungspflicht bedarf es nicht, wenn der durch den Vermögensverwalter Vertretene, d. h. der Leistungspflichtige, selbst alleiniger Gewahrsamsinhaber ist. In diesem Fall kann wegen der von ihm geschuldeten Leistung unmittelbar in das Vermögen vollstreckt werden. Ohne diese gesetzlich normierte Duldungspflicht müsste, wenn der Verwalter Gewahrsamsinhaber ist, dieser nach § 286 Abs. 4 AO seine Zustimmung für die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen geben. Dieses Zustimmungserfordernis wird durch § 77 Abs. 1 AO außer Kraft gesetzt (s. Rz. 5).
Rz. 24
Der Begriff "Verwaltung" umfasst eine gesetzliche, vertragliche oder auch angemaßte Verfügungsmacht über das Vermögen, zumindest hinsichtlich der aus dem Vermögen gezogenen Nutzungen.
2.3 Steuerentrichtungspflicht
2.3.1 Rechtspflicht
Rz. 25
Über die Verwaltung des der Duldungspflicht unterlegenen, verwalteten Vermögens hinaus muss die gesetzliche Pflicht bestehen, aus den verwalteten Mitteln (Vermögen, Vermögensteile, Nutzungen) die Steuer für den Leistungspflichtigen zu entrichten. Träger der Zahlungspflicht ist der Leistungspflichtige (Steuerschuldner, Haftungsschuldner). Der Verwalter hat daneben eine selbstständige Entrichtungspflicht, neben der die Duldungspflicht nur subsidiär ist.
Rz. 26
Diese gesetzliche Pflicht kann sich auch aus Rechtsnormen des Zivilrechts ergeben, da nach § 4 AO Gesetz jede Rechtsnorm ist. § 77 Abs. 1 AO hat insoweit eine – eingeschränkte – Transformationswirkung. Die gesetzliche Steuerentrichtungspflicht wird zu einer materiellen steuerlichen Pflicht und begründet ein Steuerpflichtverhältnis i. S. v. § 33 AO, das Voraussetzung für den Erlass eines Duldungsbescheids ist (s. Rz. 16).
2.3.2 Steuern
Rz. 27
Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 77 Abs. 1 AO besteht die Duldungspflicht nur hinsichtlich von Steuern. Da steuerliche Nebenleistungen nicht erwähnt sind, kann aufgrund von § 77 Abs. 1 AO das Dulden der Vollstreckung für Ansprüche auf Nebenleistungen nicht verlangt werden.
2.4 Anwendungsbeispiele
Rz. 28
Die Duldungspflicht nach § 77 Abs. 1 AO trifft den in §§ 34, 35 AO genannten Personenkreis, also gesetzliche Vertreter, Vermögensverwalter oder Verfügungsberechtigte in diesem Sinne. Bedeutung hat eine selbstständige steuerliche Duldungspflicht allerdings nur, soweit nicht mit dem als Vollstreckungsgrundlage dienenden Verwaltungsakt unmittelbar in das Vermögen des Leistungspflichtigen vollstreckt werden kann (s. Rz. 3, 4). Dies ist daher nur der Fall, wenn diese Personen die Vollstreckung hindernden Rechte i. S. d. § 262 AO geltend machen, bzw. bei der Pfändung als nicht zur Herausgabe bereite Dritte...