Rz. 10
Gesetz ist jede verfassungsmäßige Rechtsnorm. Verfassungswidrige Gesetze stehen außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung und entfalten deshalb keine Bindungswirkung. Rechtsnormen sind nach allgemeinem Verständnis insbesondere formelle Gesetze und Verordnungen. Nicht hierzu zählen allgemeine Verwaltungsvorschriften (z. B. Richtlinien, Erlasse). Derartige Anweisungen haben die Finanzbehörden im Besteuerungsverfahren aber u. U. nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zu beachten. Im Steuerrecht abweichend getroffene gesetzliche Grundentscheidungen, wie z. B. in § 39 AO als Abweichung vom sachenrechtlichen Zuordnungsprinzip oder vom HGB abweichende Gewinnermittlungs- und Bilanzierungsvorgaben, wie z. B. das Abzugsverbot des § 4 Abs. 5 EStG oder die Rückstellungsregeln des § 5 EStG, müssen dementsprechend Ihren Niederschlag ebenfalls im Gesetz finden. Nicht unkritisch zu betrachten in diesem Zusammenhang sind demnach untergesetzlich geregelte Nichtanwendungsregeln, wie z. B. Nichtbeanstandungserlasse der Verwaltung, die die teilweise oder gar die vollständige Nichtanwendung geltender Gesetze zur Minimierung des Verwaltungsaufwands aufseiten des Stpfl. und der Finanzbehörden zum Gegenstand haben.
Rz. 11
Die Finanzbehörden "haben" die Steuern nach Maßgabe der Gesetze festzusetzen und zu erheben. Daraus folgt, dass die Finanzbehörden nicht nur berechtigt, sondern vielmehr verpflichtet sind, entstandene Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis geltend zu machen. Es gilt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das Legalitätsprinzip. Hiervon geht auch das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Besteuerung von Zinsen sowie von Spekulationsgeschäften aus. Die Festsetzung und Erhebung von Steuern liegen grds. nicht im Ermessen der Finanzbehörden. Zweckmäßigkeitserwägungen sind generell irrelevant. Die Steuergesetze sind nicht nur Schranke, sondern zugleich auch Antrieb des Verwaltungshandelns.
In umgekehrter Hinsicht gebietet der Gesetzmäßigkeitsgrundsatz zugleich, dass außer Kraft getretene oder vom BVerfG für verfassungswidrig und damit als nichtig erklärte Gesetze nicht länger angewendet werden dürfen. In allen offenen und noch nicht bestandskräftig entschiedenen Verwaltungsverfahren wäre daher diesem Ausspruch Rechnung zu tragen und die entsprechenden Anpassungen an die geänderte Rechtslage vorzunehmen. In der Regel werden sich die Finanzbehörden indes auf die Fälle beschränken, in denen der verfassungsrechtlichen Begutachtung durch das BVerfG z. B. durch Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks oder durch die Einlegung eines Rechtsmittels Rechnung getragen wurde. In der Praxis der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung spielt es für Reichweite des Korrekturbedarfs stets auch eine gewichtige Rolle, ob das Steuergesetz für nichtig und damit mit sofortiger Wirkung (insbesondere für die Vergangenheit) für nicht anwendbar oder lediglich als mit der Verfassung als unvereinbar erklärt wird und mit dem Regelungsauftrag an den Gesetzgeber mit einem Stichtag der Unanwendbarkeit versieht. Zur Wahrung einer geordneten Haushaltsführung und der Vermeidung einer Überforderung der Finanzbehörden neigte das BVerfG in der Vergangenheit häufig dazu, dass ein Steuergesetz nur mit Wirkung für die Zukunft als unvereinbar mit der Verfassung und als reformbedürftig angesehen wurde. In Bezug auf die Überprüfung der Verzinsung nach §§ 233ff. AO wäre der Auspruch der Nichtigkeit durch das BVerfG mit fatalen Folgen für die Finanzbehörden verbunden, da dann in nahezu allen Fällen noch änderbarer Zinsfestsetzungen dieser Ausspruch beachtet werden müsste.
Rz. 12
Neben dem nationalen Besteuerungsrecht beansprucht auch europäisches Recht in zunehmendem Maße Geltung. Bekanntlich gelten die EU-Verordnungen in den Mitgliedstaaten unmittelbar. Soweit erkennbar, sind im Steuerrecht anwendbare EU-Verordnungen eine große Ausnahme. Zuletzt war die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in den abgabenrechtlichen Regelungskanon (näheres unter Rz. 33) zu integrieren. EU-Richtlinien, wie z. B. die Mehrwertsteuersystemrichtlinie, sind hingegen nur dann unmittelbar anwendbar, wenn die Umsetzung in nationales Recht nicht oder in nicht EU-rechtskonformer Weise erfolgte und der EuGH diesen Verstoß im Rahmen eines Vorlageverfahrens festgestellt hat. In anderer Art dem EU-Recht Geltung zu verschaffen haben die Finanzbehörden in Fällen, in denen staatliche Mittel, z. B. eine Steuervergünstigung, gewährt wurden, ohne dass sie von der einschlägigen Beihilferegelung gedeckt ist. Hiernach obliegt es der nationalen Stelle, aus eigener Initiative eine Beihilfe zurückzufordern, wenn sie durch die AGVO nicht erfasst wurde, bzw. die tatbestandlichen Voraussetzung der nach der AGVO zu notifizierenden Beihilfe nicht erfüllt sind. Die nationalen Gerichte haben nach Ihren nationalen Rechtslagen sicherzustellen, dass sämtliche Konsequenzen aus einer Verletzung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV sowohl hinsichtlich der...