Rz. 77
Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie zur vollen Überzeugung des zuständigen Entscheidungsträgers festgestellt werden konnte. Ist dieser Überzeugungsgrad nicht erreicht, so stellt sich die Frage nach den Folgen der Nichterweislichkeit (Beweislosigkeit).
Rz. 78
Das vom Untersuchungsgrundsatz bestimmte Verfahrensrecht der AO (vgl. Rz. 1f.) kennt grundsätzlich keine subjektive Beweislast oder Beweisführungslast. Sie wäre mit dem Untersuchungsgrundsatz nicht vereinbar.
Der Beteiligte ist nicht verpflichtet, einen bestimmten Beweis zu führen. Eine solche Pflicht würde dem Gedanken des § 88 AO widersprechen. Der Untersuchungsgrundsatz gilt jedoch nicht, soweit der Beteiligte nach den Vorschriften des Verfahrens- oder des materiellen Rechts ausnahmsweise einen Sachverhalt darlegen und beweisen muss. In diesen Ausnahmefällen gehen Aufklärungsdefizite zulasten des Beteiligten. Einer Untersuchung durch die Finanzbehörde bedarf es nicht mehr. Eine subjektive Beweislast muss sich aber immer unzweideutig aus der Steuerrechtsnorm ergeben.
Rz. 79
Im Übrigen begründen auch die allgemeinen und gesteigerten Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 1 bzw. 2 AO keine subjektive Beweislast. Deren Verletzung mindert allenfalls das Beweismaß (vgl. Rz. 39ff.) und entfaltet ggf. im Rahmen der Beweiswürdigung nachteilige Wirkungen. Sie bewirken aber nicht i. S. d. (zivilprozessualen) subjektiven Beweislast, dass die Nichtermittelbarkeit von Tatsachen zulasten des Beteiligten geht.
Rz. 80
In Fällen der Nichterweislichkeit des entscheidungserheblichen Sachverhalts und damit nach Ausschöpfung aller zugänglichen und zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten ist vielmehr nach den Regeln der objektiven Beweislast oder Feststellungslast zu entscheiden. Wer die Feststellungslast im Einzelfall trägt, orientiert sich dabei an dem jeweils anzuwendenden materiellen Rechtssatz. Ergeben sich daraus keine klaren Beweislastverteilungsregeln, ist an die allgemeine verfahrensrechtliche Rollenverteilung anzuknüpfen, sodass die Nichterweislichkeit steuerbegründender und steuererhöhender Merkmale zulasten der Finanzbehörde, diejenige der steuermindernden und steuerbefreienden Merkmale zulasten des Beteiligten geht. Die Beurteilung, ob Tatsachen steuermindernd sind, muss erforderlichenfalls durch Auslegung unter Berücksichtigung des Zwecks der maßgeblichen Vorschrift ermittelt werden.
Rz. 81
Eine Beweislastentscheidung ist "ultima ratio", beinhaltet sie doch ein starres Verteilungsschema des "Alles oder Nichts". Deshalb hat die Sachaufklärung auch stets Vorrang. Bei einem richtigen Verständnis der Anforderungen an das Beweismaß sowie der Regeln der Beweiswürdigung ist der Raum für eine Beweislastentscheidung ohnehin gering. Denn zum einen führen Mitwirkungspflichtverletzungen zu einer Minderung des Beweismaßes und können im Rahmen der Beweiswürdigung zu einer für den Beteiligten nachteiligen Überzeugungsbildung der Finanzbehörde führen. Zum anderen beinhaltet die Schätzungsbefugnis nach § 162 AO eine spezielle Ausprägung der beweismaßreduzierten Entscheidung. Die Finanzbehörde muss also kritisch prüfen, ob tatsächlich eine nicht zu vertretende Nichterweislichkeit des Sachverhalts vorliegt. Dies erfordert eine genaue Kenntnis der an sie gestellten Anforderungen hinsichtlich des Beweismaßes wie auch ihrer Möglichkeiten hinsichtlich der Beweiswürdigung.