Prof. Dr. Alexander Kratzsch
2.1 Tatsächliche Gestaltung
Rz. 3
Nach den tatsächlichen, äußeren Umständen muss sich die Person ("jemand") derart an einem Ort oder in einem Gebiet aufhalten, dass darin nicht nur ein vorübergehendes Verweilen zu sehen ist. Die äußeren Umstände müssen auf einen gewöhnlichen Aufenthalt schließen lassen. Diese Voraussetzungen gelten nach dem Wortlaut des S. 1 unabhängig davon, ob der gewöhnliche Aufenthalt im Inland oder Ausland anzunehmen ist. S. 2 dagegen behandelt nur den gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich der AO. Liegt der Ort oder das Gebiet nach S. 1 im Geltungsbereich der AO, so hat die Person in diesem Bereich ihren gewöhnlichen Aufenthalt.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen eines gewöhnlichen Aufenthalts gegeben sind, ist wie beim Wohnsitzbegriff der objektive äußere Tatbestand und nicht der Wille der Person entscheidend. Vor allem sind Wille und Absicht der Person, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen oder nicht, dann belanglos, wenn sie mit der tatsächlichen Gestaltung nicht im Einklang stehen. Deswegen kann auch ein zwangsweiser Aufenthalt ein gewöhnlicher Aufenthalt sein.
Wie ein den tatsächlichen Vorgängen entstehender Wille nicht schadet, so ist für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch eine Willensbetätigung keine Voraussetzung. Weder eine Geschäftsfähigkeit noch auch nur ein natürlicher Wille sind für die Anwendung des § 9 S. 2 AO erforderlich, sodass auch willensunfähige Personen wie z. B. Bewusstlose einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen können; anders ist dies m. E. bei § 9 S. 1, AO, bei dem die Absicht des Stpfl. für die Deutung der Umstände maßgeblich ist. Eine natürliche Willensfähigkeit ist danach für § 9 S. 2 AO m. E. nicht erforderlich, wohl aber für S. 1. Bei der Ermittlung und Auswertung des äußeren Tatbestands nach S. 1 sind daher die nach außen sichtbaren Pläne und Absichten des Stpfl. zu berücksichtigen, da der Aufenthalt und das Verweilen Ergebnisse von Willensbetätigungen sind. Da die tatsächlichen Umstände maßgebend sind, kommt der polizeilichen An- und Abmeldung oder der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts allenfalls indizielle Bedeutung zu; sie reichen indes für einen Nachweis i. d. R. nicht aus.
2.2 Tatbestandsmerkmale von § 9 S. 1
2.2.1 Allgemeines
Rz. 4
Der gewöhnliche Aufenthalt ist an die Voraussetzungen geknüpft, dass eine Person sich an dem Ort oder in diesem Gebiet tatsächlich aufhält und dass dies u. U. geschieht, die erkennen lassen, dass die Person dort "nicht nur vorübergehend verweilt".
2.2.2 Ort – Gebiet
Rz. 4a
Im Gegensatz zum Wohnsitz verlangt der gewöhnliche Aufenthalt nicht das Innehaben einer Wohnung, einer Bleibe. Abgestellt wird vielmehr auf einen Ort oder auch ein Gebiet. Das Nebeneinander dieser Begriffe ist aus Klarheitsgründen sinnvoll, da ein gewöhnlicher Aufenthalt mangels einer Wohnung und damit eines festen Punkts sowohl an einem Ort als auch in einem größeren Bereich möglich ist. Auch wenn das Verwenden dieser Wörter auf den Gegensatz in § 14 Abs. 1 S. 1 und 2 StAnpG zurückzuführen ist, hat der Gesetzgeber in § 9 AO damit zum Ausdruck gebracht, dass eine Zuordnung zu einer bestimmten Stelle nicht erforderlich ist. Die Art und Größe des maßgeblichen Gebietes bestimmen sich nach der jeweiligen Vorschrift, deren Tatbestand an den gewöhnlichen Aufenthalt einer Person anknüpft. So kommt es bei § 1 Abs. 1 EStG und § 2 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. a ErbStG für die unbeschränkte Steuerpflicht auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland an, während § 19 AO für die örtliche Zuständigkeit auf den Bezirk des Wohnsitz-FA abstellt. Möglich ist daher – z. B. im Zusammenhang mit § 1 Abs. 1 EStG – sogar ein gewöhnlicher Aufenthalt insgesamt im Bundesgebiet, ohne dass die Voraussetzungen des S. 2 gegeben sein müssen. Im Wortlaut ist nicht zu erkennen und nach dem Sinn ist keine Auslegung erforderlich, dass das Gebiet kleiner als das Bundesgebiet sein muss. Fälle mit einem wechselnden Aufenthalt im ganzen Bundesgebiet können nicht dem S. 2 überlassen bleiben. Lediglich eine dauerhafte Bindung an das Inland ist erforderlich, aber auch ausreichend zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts. So hat ein ausländischer Künstler, der sich für mehr als ein Jahr auf eine Tournee durch das Inland begibt und jeweils nur wenige Nächte an einem Ort in einem Hotel übernachtet, auch dann einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inl...