3.1 Funktionen des Einspruchsverfahrens
Rz. 3
Das Einspruchsverfahren hat drei Funktionen:
- den Rechtsschutz des Stpfl. durch die Möglichkeit, einen Verwaltungsakt auf Antrag noch einmal in vollem Umfang durch die Finanzbehörde auf seine Richtigkeit überprüfen zu lassen,
- die Selbstkontrolle der Finanzbehörde durch eine erneute Sachentscheidung, die auch die Ausübung des Ermessens umfasst und zu einer "Verböserung" führen kann, sowie
- die Entlastung der Finanzgerichtsbarkeit infolge der rechtlichen Ausgestaltung des Einspruchsverfahrens als regelmäßig notwendiges Vorverfahren für das finanzgerichtliche Klageverfahren.
3.2 Verfassungsrechtliche Aspekte
Rz. 4
Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt – ausgeübt durch die Verwaltungsbehörden – an Gesetz und Recht gebunden. Diese Bindung wird durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gesichert, die den umfassenden effektiven Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt durch unabhängige Richter gewährleistet.
Die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie eröffnet den formellen Rechtsschutz durch Anrufung des Gerichts gegen das Verhalten der Behörden. Ein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren wird dagegen nicht von ihr erfordert, denn Art. 19 Abs. 4 GG gebietet lediglich den "Rechtsschutz gegen Behörden, nicht durch Behörden".
Andererseits steht die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie einem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren grds. nicht entgegen, denn die Gewährleistung des Rechtswegs schließt nicht aus, dass seine Beschreitung in den Prozessordnungen von der Erfüllung bestimmter formeller Voraussetzungen abhängig gemacht wird. Der Weg zu den Gerichten und die Durchsetzung des Anspruchs auf die Durchsetzung des materiellen Rechts darf jedoch nicht durch das vorgeschaltete Rechtsbehelfsverfahren in unzumutbarer Weise erschwert werden. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch GG Art. 19 Abs. 4 gebietet daher eine entsprechend weite Auslegung und Anwendung der zugrunde liegenden Vorschriften.
3.3 Rechtscharakter des Einspruchsverfahrens
Rz. 5
Die große Zahl der durch die Finanzbehörden zu bearbeitenden Steuerfälle, die zunehmende Kompliziertheit und die Unbeständigkeit der Steuergesetze wie auch die vielfache Komplexität der zu beurteilenden Sachverhalte sind nur einige der zahlreichen Fehlerquellen im Besteuerungsverfahren, die zu einer Rechtswidrigkeit von Verwaltungsakten führen können. Durch die Einlegung eines Einspruchs zwingt der Stpfl. die Finanzbehörde, den angefochtenen Verwaltungsakt (noch einmal) auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
Rz. 6
Das finanzbehördliche Einspruchsverfahren ist ein dem finanzgerichtlichen Klageverfahren regelmäßig vorgeschaltetes Vorverfahren, dessen erfolgloser Abschluss nach § 44 Abs. 1 FGO grds. Voraussetzung der finanzgerichtlichen Sachentscheidung bei der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist. Gleichwohl handelt es sich nicht um einen Teil des Gerichtsverfahrens, sondern um einen Teil des finanzbehördlichen Verwaltungsverfahrens. Dies zeigt sich schon daran, dass nach § 365 Abs. 1 AO im Einspruchsverfahren die Vorschriften, die für den Erlass des angefochtenen Verwaltungsakts gelten, entsprechend anwendbar sind. Die entscheidende Finanzbehörde ist darüber hinaus nicht – wie ein Gericht – unabhängig und nur an Recht und Gesetz gebunden; vielmehr hat sie sich auch an Verwaltungsvorschriften, wie Richtlinien, Erlasse und Verfügungen, zu halten. Die Finanzbehörde hat die Sache im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 S. 1 AO in vollem Umfang erneut zu prüfen. Sie darf sich also nicht nur – wie ein Gericht – auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts beschränken, sondern hat eine erneute Sachentscheidung zu treffen. Die Einspruchseinlegung versetzt die Finanzbehörde in die gleiche Rechtssituation, als würde sie nun aufgrund des Sach- und Rechtsstands im Zeitpunkt der Entscheidung erstmalig über die Sache entscheiden. Sie kann und muss – unabhängig von den allgemeinen Korrekturbestimmungen – den angefochtenen Verwaltungsakt aufheben oder inhaltlich korrigieren, wenn er nicht rechtmäßig ist. Ist der Finanzbehörde bei dem Erlass eines Verwaltungsakts ein Ermessen eingeräumt, hat sie – anders als das Gericht – über die Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns in vollem Umfang erneut zu entscheiden und darf sich nicht lediglich auf die Überprüfung der zuvor getroffenen Ermessensentscheidung beschränken. Schließlich kann im Einspruchsverfahren – anders als im finanzgerichtlichen Verfahr...