Rz. 54
Mit der Rüge, das FG habe nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt und gegen den Inhalt der Akten verstoßen, wird i. d. R. eine Verletzung des § 96 Abs. 1 FGO (Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens) geltend gemacht. Das FG ist danach insbesondere verpflichtet, den Inhalt der vorgelegten Akten und den Vortrag der Verfahrensbeteiligten (quantitativ) vollständig und (qualitativ) einwandfrei zur Kenntnis zu nehmen und bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Das FG verletzt seine Pflicht zur vollständigen und zutreffenden Berücksichtigung des Streitstoffs, wenn es einen Sachverhalt berücksichtigt, der dem schriftlichen bzw. protokollierten Vortrag der Beteiligten oder von Zeugen widerspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache oder einen bestimmten Tatsachenvortrag erkennbar unberücksichtigt lässt, obwohl dieser nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung entscheidungserheblich sein kann, z. B. bei der Beweiswürdigung nicht bewertet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 96 FGO nicht gebietet, alle im Einzelfall gegebenen Umstände im Urteil zu erörtern. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das FG auch denjenigen Akteninhalt in Erwägung gezogen hat, mit dem es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat.
Hat das FG über einen anderen Lebenssachverhalt, als mit der Klage geltend gemacht, entschieden, liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren vor, der auch ohne Rüge zu beachten ist und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.
Kein Aktenverstoß liegt vor, wenn das FG den ihm vorliegenden Akteninhalt anders als den klägerischen Vorstellungen entsprechend gewürdigt hat. Denn bei fehlerhafter Tatsachenwürdigung handelt es sich nicht um einen Verfahrensmangel, sondern um einen materiell-rechtlichen Fehler. Das gilt auch dann, wenn die Würdigung gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt. Auch insoweit handelt es sich um materielle Fehler, nicht um Verfahrensfehler.
Die Rüge verlangt mehr als nur pauschale Angriffe. Nicht genügend ist z. B. die bloße Behauptung, das FG habe sich mit einem bestimmten Sachvortrag nicht auseinandergesetzt. Es ist vielmehr konkret Folgendes vorzutragen:
- Darlegung eines vom FG berücksichtigten Sachverhalts, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen des Beteiligten nicht entspricht, oder
- genaue Bezeichnung der Aktenteile (Schriftsätze, Belege, entscheidungserhebliches Vorbringen) mit Datum und Seitenzahl, die zu Unrecht berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt worden sind,
- inwiefern sich die Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung – ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des FG – auf das Urteil ausgewirkt hat, d. h. entscheidungserheblich war,
- welche Schlussfolgerungen sich für das Urteil des FG aufgrund der bisher nicht berücksichtigten bzw. bei Außerachtlassung der zu Unrecht berücksichtigten Aktenteile hätten ergeben oder aufdrängen müssen. Dabei ist ebenfalls die materiell-rechtliche Auffassung des FG entscheidend.
Wird geltend gemacht, das FG habe entscheidungserhebliches Vorbringen der Beteiligten übergangen, kann die Rüge auch als Verletzung des rechtlichen Gehörs zu werten sein. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.
Die Rüge kann auch als Aufklärungsrüge verstanden werden, nämlich dahin, das FG hätte den Sachverhalt weiter ermitteln müssen. In diesem Fall ist insbesondere vorzutragen, dass die Nichterhebung angebotener Beweise vor dem FG rechtzeitig beanstandet worden ist oder aufgrund des Verhaltens des FG nicht mehr vor diesem gerügt werden konnte und dass das voraussichtliche Ergebnis der Beweisaufnahme – von der materiell-rechtlichen Auffassung des FG ausgehend – zu einer anderen Entscheidung hätte führen können bzw. aus welchen Gründen sich dem FG die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung auch ohne besonderen Antrag hätte aufdrängen müssen.