1.1 Verweisung bei Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts
Rz. 1
Im Rahmen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird der Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet. Der gesetzliche Richter ist das durch Gesetz nach abstrakten Kriterien vorausbestimmte, für diesen Rechtsstreit zuständige Gericht. Die Zuständigkeit eines Gerichts der Finanzgerichtsbarkeit bestimmt sich über die Eröffnung des Finanzrechtswegs nach § 33 FGO sowie den Regelungen über die sachlich/funktionelle Zuständigkeit nach den §§ 35, 36 FGO und der örtlichen Zuständigkeit nach § 38 FGO.
Rz. 2
Die Eröffnung des Finanzrechtswegs i. S. des § 33 FGO sowie die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nach den §§ 35–39 FGO sind Voraussetzung der gerichtlichen Sachentscheidung (sog. Sachentscheidungsvoraussetzungen). D. h. das FG hat diese Voraussetzungen von Amts wegen zu prüfen, bevor es in der Sache entscheidet. Denklogisch ist dabei die Zulässigkeit des Finanzrechtswegs nach § 33 FGO vor der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit zu prüfen. Die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts führt allerdings nicht dazu, dass das unzuständige Gericht die Klage bzw. den Antrag als unzulässig verwirft, sondern unter Ausspruch seiner Unzuständigkeit eine Verweisung des Rechtsstreits an das zuständige Gericht vorzunehmen hat. Abschließende Regelungen zur gerichtlichen Entscheidung über die Zuständigkeit enthalten die §§ 17 bis 17b GVG.
Sie gelten im finanzgerichtlichen Verfahren sowohl für Hauptsacheverfahren als auch für Nebenverfahren
- bei Unzulässigkeit des Finanzrechtsweg nach § 33 FGO gem. § 155 S. 1 FGO unmittelbar und
- für die Verweisung wegen sachlicher oder örtlicher Unzuständigkeit des angerufenen FG/BFH mittelbar durch Verweisung in § 70 S. 1 FGO.
Die Regelungen der §§ 17 bis 17b GVG gelten im Zusammenhang mit der Rechtswegzuständigkeit aufgrund der in den einzelnen Verfahrensordnungen bestehenden allgemeinen Verweisungsvorschriften sowie für die ordentliche Gerichtsbarkeit (unmittelbar) nach § 2 EGGVG im Ergebnis einheitlich in allen fünf Gerichtsbarkeiten.
1.2 Sperrwirkung durch Rechtshängigkeit (Klagesperre, § 17 Abs. 1 S. 2 GVG)
Rz. 3
Durch die Erhebung einer Klage vor dem FG oder irgendeinem anderen Gericht wird diese Streitsache entsprechend der Regelung des § 66 FGO für die Finanzgerichtsbarkeit rechtshängig. Während der Rechtshängigkeit kann diese Streitsache aufgrund § 17 Abs. 1 S. 2 GVG von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden. Daher entfaltet die Rechtshängigkeit eine Sperrwirkung mit der Folge, dass jede spätere Klage mit demselben Streitgegenstand zwischen denselben Prozessbeteiligten bei jedem anderen oder demselben Gericht unzulässig ist (sog. Klagesperre). Allerdings soll das Prozesshindernis der anderweitigen, doppelten Rechtshängigkeit vorrangig dadurch beseitigt werden, dass das unzuständige Gericht die Sache durch Beschluss an das zuständige Gericht verweist, welches sodann die beiden Verfahren nach § 73 Abs. 1 FGO zu verbinden hat. Wenn beide Klagen insoweit bei ein- und demselben Senat eines FG eingereicht wurden, ist die doppelte Rechtshängigkeit daher im Ergebnis durch Verbindung beider Klagen zu beseitigen.
Rz. 3a
Die Reichweite der Klagesperre ist allerdings noch nicht endgültig von der Rechtsprechung umrissen. Fraglich ist insbesondere, ob im Falle der Rücknahme der zeitlich gesehen ersten Klage eine weitere, wegen des Verfahrenshindernisses der doppelten Rechtshängigkeit (zunächst) unzulässige Klage in die Zulässigkeit hineinwachsen kann. Im Hinblick darauf, dass die Sachentscheidungsvoraussetzungen erst im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erfüllt sein müssen, dürfte die zweite Klage jedoch ohne weiteres in die Zulässigkeit hineinwachsen, wenn die erste Klage wirksam zurückgenommen und damit die verfahrensrechtlichen Wirkungen der anderweitigen Rechtshängigkeit (rückwirkend) beseitigt wird.
Selbstredend muss die zweite Klage hierfür aber auch alle übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen erfüllen.