Rz. 5
Nach § 74 FGO kann ein Verfahren ausgesetzt werden, wenn die zu treffende Entscheidung ganz oder teilweise vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängig ist, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Die Norm gibt dem FG daher die Möglichkeit, bei Gefahr divergierender Entscheidungen von einer Entscheidung über das anhängige Verfahren abzusehen, als ein anderes Verfahren anhängig ist, dessen abschließende Entscheidung auf die Entscheidung über den Rechtsstreit Einfluss hat und ihr somit vorgreift. Obwohl das angerufene FG den Rechtsstreit nach § 17 Abs. 2 S. 1 GVG unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheiden kann, wird durch eine Verfahrensaussetzung nach § 74 FGO erreicht, dass die Entscheidung einer Vorfrage dem sachkompetenteren Gericht oder der mit dem anderen Verfahren befassten Behörde faktisch verantwortlich übertragen wird. Darüber hinaus ersparen sich das Gericht und die Beteiligten durch das Vermeiden einer doppelten gerichtlichen Prüfung Zeit und Kosten, sodass die Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit letztendlich auch der Prozessökonomie dient.
Rz. 6
Eine Aussetzung der Verhandlung bzw. des Verfahrens kommt grundsätzlich in jeder Art von gerichtlichen Verfahren in Betracht. Auch in den Rechtsmittelverfahren vor dem BFH kann nach § 74 FGO ausgesetzt werden, allerdings nicht, wenn die anderweitige Klärung von Vorfragen zu tatsächlichen Feststellungen führen soll, die der BFH gem. § 118 Abs. 2 FGO nicht berücksichtigen könnte.
Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Gefahr divergierender Entscheidungen, die die Möglichkeit zur Aussetzung nach § 74 FGO begründet, eine Verzögerung der Entscheidung und damit des Rechtsstreits nur dann zu rechtfertigen imstande ist, wenn das Verfahren auf eine endgültige Regelung in der Hauptsache gerichtet ist. Daher kommt in den Verfahren über den vorläufigen Rechtsschutz nach § 69 FGO (Antrag auf Aussetzung der Vollziehung) und nach § 114 FGO (einstweilige Anordnung) weder eine Verfahrensaussetzung noch die Anordnung der Verfahrensruhe in Betracht. Eine Verfahrensaussetzung ist mit der summarischen Natur des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und deren Eilbedürftigkeit unvereinbar. Zudem erwächst eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz nicht in materielle Rechtskraft. Ein Verfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe dürfte ebenso nach dessen Sinn und Zweck nicht aussetzungsfähig sein. Beziehen sich die Aussetzungsgründe nur auf einen abtrennbaren Teil des Rechtsstreits und ist der andere Teil entscheidungsreif, kommt eine Abtrennung des auszusetzenden Verfahrens nach § 73 FGO in Betracht. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO darf allerdings nur dann ausgesprochen werden, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen des auszusetzenden Verfahrens erfüllt sind. Der unzulässige Rechtsstreit darf nicht nach § 74 FGO ausgesetzt werden, es sei denn, das vorgreifliche Verfahren wirkt sich auf die Zulässigkeit des auszusetzenden Rechtsstreits aus (vgl. Rz. 13).
Rz. 7
Eine Aussetzung nach § 74 FGO kommt insbesondere auch in Verfahren ohne mündliche Verhandlung in jedem Verfahrensstadium in Betracht. Wenn die Vorschrift von Aussetzung der "Verhandlung" spricht, ist damit nämlich nicht die mündliche Verhandlung im engeren Sinne gemeint, sondern die zur abschließenden Entscheidung führende Verhandlung des Gerichts, sodass "Verhandlung" hier wie "Rechtsstreit" bzw. "Verfahren" zu lesen ist.