2.2.1 (Nicht-)Bestehen eines Rechtsverhältnisses
Rz. 8
Unter einem Rechtsverhältnis i. S. d. § 74 FGO ist die sich aus einem konkreten Sachverhalt ergebende, durch Rechtsnormen geordnete rechtliche Beziehung zwischen verschiedenen Personen untereinander oder von einer Person zu einer Sache zu verstehen. Mit Rücksicht auf den Zweck der Vorschrift, einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden und eine möglichst ökonomische Prozessführung zu gewährleisten, ist das Merkmal des vorgreiflichen Rechtsverhältnisses weit auszulegen. Das Rechtsverhältnis braucht nicht zwingend zwischen den Beteiligten des auszusetzenden Verfahrens gegeben zu sein. Für die Aussetzung nach § 74 FGO ist es auch ohne Bedeutung, ob das Rechtsverhältnis öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Rechtscharakter hat. Rechtsverhältnisse sind daher z. B. die Erbenfeststellung, das Kindschaftsverhältnis, der Status als Körperbehinderter, die Gesellschafterstellung, das Bestehen eines öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertragsverhältnisses oder das Bestehen einer aufrechenbaren zivilrechtlichen Gegenforderung. Das Rechtsverhältnis kann sich sogar aus der Durchführung eines Strafverfahrens wegen eines Steuervergehens, dem dieselben Tatumstände wie in dem auszusetzenden Verfahren zugrunde liegen, ergeben. Keine Rechtsverhältnisse sind hingegen Rechts- und Auslegungsfragen. Hierüber ist in dem jeweils anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden, sodass eine Aussetzung i. S. d. § 74 FGO auch zweckwidrig wäre. Eine künftige mit Rückwirkung versehene Gesetzesänderung ist ebenso kein Rechtsverhältnis, dessen Bestehen oder Nichtbestehen für die Entscheidung des Rechtsstreits vorgreiflich ist. In diesen Fällen kann der Rechtsstreit allenfalls mit Zustimmung der Beteiligten zum Ruhen gebracht werden.
2.2.2 Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits
Rz. 9
Das zur Entscheidung berufene FG kann ein Verfahren nur aussetzen, wenn das vorgreifliche Rechtsverhältnis den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Hieran fehlt es, wenn das andere Verfahren bei demselben Senat desselben Gerichts anhängig ist. Denn nur wenn dem zuständigen Spruchkörper die Kompetenz für die vorgreifliche Entscheidung fehlt, lässt sich die Aussetzung des Verfahrens mit ihren weitreichenden Wirkungen rechtfertigen. Nach Auffassung von Herbert erscheint die Beschränkung auf Verfahren bei einem anderen Gericht bzw. Senat in dieser Allgemeinheit nicht geboten, weil aus verfahrensrechtlichen Gründen die Abhängigkeit auch bestehen kann, wenn Verfahren bei demselben Senat anhängig sind; z. B. bei Anfechtung von Grundlagen- und Folgebescheid. Dem dürfte allerdings nur in Ausnahmefällen zu folgen sein, denn der zuständige Spruchkörper kann im Regelfall über beide Verfahren gleichzeitig entscheiden. Im Übrigen kommen Verfahren vor Gerichten aller Gerichtsbarkeiten in Betracht. Auch ein Schiedsgericht soll grundsätzlich ein solches Gericht sein.
Rz. 10
Entgegen dem Wortlaut des § 74 FGO kann es sich bei dem betreffenden Rechtsstreit nicht nur um ein bereits anhängiges Verfahren handeln, sondern auch um ein solches Verfahren, das ggf. nach Fristsetzung durch das FG von einem der Beteiligten erst noch anhängig zu machen ist. Sofern der in Frage kommende Beteiligte dieser nicht erzwingbaren Aufforderung nicht nachkommt, ist die Aussetzung ausgeschlossen und das angerufene FG muss über die Vorfrage selbst entscheiden. Sofern dem angerufenen FG die Entscheidungskompetenz fehlt, muss es seine Entscheidung unter Anwendung der Regeln über die Beweislast treffen. Eine solche vom Wortlaut des § 74 FGO abweichende Zulässigkeit der Aussetzung des Verfahrens rechtfertigt sich aus dem Zweck der Vorschrift. Eine Aussetzung des Verfahrens kommt aber jedenfalls dann nicht mehr in Betracht, wenn das andere Verfahren nicht mehr anhängig ist.