Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
Rz. 63
§ 26 Abs. 3 UStG basiert auf der Kannbestimmung des Art. 371 i. V. m. Anhang X Teil B Nr. 10 MwStSystRL und ist damit unionsrechtlich abgesichert. Auch handelt es sich – wenn die Orientierung an der Liste der Staaten erfolgt, zu denen Gegenseitigkeit i. S. d. Regelung besteht – um eine international abgesicherte Regelung. Ihre Begründung bezieht die Regelung aber nicht aus systematischen Grundsätzen, sondern lediglich aus der Überlegung, dass eine Erhebung der USt bei der grenzüberschreitenden Beförderung im internationalen Luftverkehr auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde (Rz. 35).
Rz. 64
Dies führt allerdings nicht dazu, dass die Regelung als systemgerecht und gelungen angesehen werden kann – sie ist vielmehr ein Fremdkörper im System der USt, da es sich im Ergebnis um einen der wenigen bewusst vorgegebenen – und nicht nur aus dem Zusammenspiel verschiedener Systeme zufällig ergebenden – Fälle der Nichtbesteuerung von Leistungen handelt. Zudem handelt es sich auch nicht nur um einen unwesentlichen wirtschaftlichen Faktor, bei dem die Nichterhebung der USt für die Staatsfinanzen zu vernachlässigen wäre.
Rz. 65
Das Argument, dass die Erhebung der USt im Einzelfall bei den grenzüberschreitenden Beförderungen im Luftverkehr zu erheblichen praktischen Problemen führen würde – insbesondere die Aufteilung der Bemessungsgrundlage auf die verschiedenen überflogenen Staaten –, hat selbstverständlich Gewicht. Allerdings muss beachtet werden, dass dieses Argument schon seit der Schaffung des Allphasenmehrwertsteuersystems mit Vorsteuerabzugsberechtigung 1967 bestanden hat und seitdem die Möglichkeiten der Ermittlung der anteiligen Bemessungsgrundlagen durch technische Verfahren sehr viel einfacher geworden sein dürften. Die Regelungen der USt haben für viele andere Unternehmer ebenfalls erheblich an Komplexität gewonnen, ohne dass auch nur ansatzweise daran gedacht worden ist, aus diesen Gründen die USt zu erlassen oder niedriger festzusetzen.
Rz. 66
Die Regelung der Nichterhebung der USt für die grenzüberschreitende Beförderung von Personen im Luftverkehr entbehrt auch jeglicher wirtschaftlicher Grundlage, da sie alle anderen ebenfalls grenzüberschreitenden Beförderungen von Personen diskriminiert. Die Beförderung im grenzüberschreitenden Verkehr mit Bussen oder mit der Eisenbahn führt selbstverständlich zu einem im Inland steuerbaren und steuerpflichtigen Umsatz, soweit die Beförderung im Inland ausgeführt wird. Auch würde niemand auf die Idee kommen, eine niedrigere Festsetzung der USt aus dem Bezug von Kraftstoffen zu begehren, bloß weil er mit dem Fahrzeug grenzüberschreitend verkehrt. In einem Verfahren vor dem EuGH ist zwar (2000) festgestellt worden, dass beim damaligen Stand der Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten der unionsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach denen grenzüberschreitende Personenbeförderungen mit Luftfahrzeugen weiterhin von der Steuer befreit sind, während grenzüberschreitende Personenbeförderungen mit Bussen besteuert werden. Nunmehr sind aber mehr als zwanzig Jahre weiterer Annäherung vergangen, ohne dass die unionsrechtliche Harmonisierung in dieser Frage weiter vorangeschritten wäre.
Rz. 67
Auch aus ökologischen Gründen kann keine Begründung bestehen, den Luftverkehr gegenüber anderen Verkehrsträgern zu begünstigen, da der Luftverkehr sowohl erhebliche Abgasemissionen als auch Lärmemissionen verursacht; so nimmt auch die Akzeptanz des Luftverkehrs in den betroffenen Regionen ab. Auch können zunehmend Zweifel bestehen, die grenzenlose Mobilität steuerlich zu subventionieren, da zumindest in der Wirtschaft moderne Kommunikationsmittel den persönlichen Kontakt teilweise ersetzen können, wie auch in der Corona-Pandemie bewiesen wurde.
Rz. 68
Ein Alleingang in Deutschland, für den inländischen Streckenanteil bei der grenzüberschreitenden Beförderung von Personen im Luftverkehr eine USt zu erheben, erscheint unrealistisch und wird deshalb nicht durchsetzbar sein, da dies auch weltweit zu Folgewirkungen für die in Deutschland ansässigen Luftverkehrsunternehmen führen würde. Zumindest in der Europäischen Union sollte aber die Diskriminierung der anderen Verkehrsträger durch eine Besteuerung auch des Flugverkehrs beseitigt werden. Dabei könnten dann auch Regelungen geschaffen werden, die eine Aufteilung einer Bemessungsgrundlage auf verschiedene Mitgliedstaaten verhindern würde (z. B. Start- oder Landeortprinzip). Die Unfähigkeit, hier zu politischen Kompromissen zu kommen, kann langfristig nicht dazu herhalten, eine den technischen Bedingungen von vor mehr als 50 Jahren entsprechende Begründung für eine Sonderregelung bedingungslos fortzuführen.