Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
2.1 Vorlage eines Vertrags
Rz. 13
§ 29 UStG regelt ausschließlich Ausgleichsansprüche bei zweiseitigen Verträgen. Eine Anwendung bei einseitigen Rechtsgeschäften, bei Einfuhren, bei innergemeinschaftlichen Erwerben oder bei unentgeltlichen Leistungen i. S. d. § 3 Abs. 1b UStG oder des § 3 Abs. 9a UStG ist nicht möglich. Ebenso ist § 29 UStG nicht anzuwenden, wenn Leistungen aufgrund gesetzlicher oder behördlicher Anordnung als ausgeführt gelten. Diese Einschränkungen sind zwar systematisch von Gewicht, werden in der Praxis aber kaum zu erheblichen Mehrbelastungen des Unternehmers führen.
Rz. 14
Obwohl die Überschrift des § 29 UStG von der "Umstellung langfristiger Verträge" spricht, wird im folgenden Gesetzestext nur auf "Verträge" Bezug genommen. Die Vorschrift des § 29 UStG ist somit nicht nur auf Verträge über Dauerschuldverhältnisse gerichtet, sondern erfasst auch alle einmaligen Verträge. Die folgenden Vertragsarten fallen damit insbesondere unter die Regelungen des § 29 UStG:
- Einmalige Verträge über Lieferungen oder sonstige Leistungen, z. B. Kaufverträge oder ein Vertrag über die Erbringung einmaliger sonstiger Leistungen.
- Dauerschuldverträge über näher bestimmte oder unbestimmte Zeiträume, z. B. Mietverträge, Dienstverträge, Lizenzverträge oder Handelsvertreterverträge.
- Teillieferungsverträge über Lieferungen in bestimmten, meist vom Leistungsempfänger bestimmbaren Rhythmen, z. B. Bierlieferungsverträge oder Verträge über den Bezug von Mineralöl.
- Wiederkehrschuldverhältnisse bei Verträgen über die Lieferung von z. B. Gas, Strom oder Wasser an Endverbraucher, die einer fortlaufenden, auch stillschweigend zu erteilenden Verlängerung des Vertrags bedürfen.
Rz. 15
Da § 29 UStG auf einen auf zivilrechtlicher Ebene zu erzielenden Ausgleich zwischen den Vertragsparteien abzielt, kann die Regelung nur für solche Verträge anzuwenden sein, die dem deutschen (Zivil-)Recht unterliegen. In der Regel wird dabei darauf abzustellen sein, nach welchem nationalen Recht sich die Zahlungsverpflichtung des Leistungsempfängers bestimmt bzw. welcher Vertragsstand nach den anzuwendenden Geschäftsbedingungen maßgeblich ist.
2.2 Zeitpunkt des Vertragsabschlusses
Rz. 16
Nach der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers war ein schutzwürdiges Interesse einer der Vertragsparteien nur dann gegeben, wenn bei Abschluss des Vertrags eine steuerrechtliche Änderung nicht erkennbar war. Da Änderungen des Umsatzsteuerrechts nach der jeweiligen Verabschiedung und Veröffentlichung der Änderungen auch bei der Finanzverwaltung i. d. R. Vorlaufzeiten zur Umsetzung, insbesondere im Voranmeldungsverfahren erfordern, wurde eine Frist für die Anwendung des § 29 UStG auf Verträge beschränkt, die nicht später als vier Monate vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen worden sind; diese Überlegungen waren aber bei der temporären Steuersatzabsenkung für Umsätze vom 1.7. bis 31.12.2020 nicht berücksichtigt worden; vgl. Rz. 18a. Die Frist von vier Monaten deckt sich auch mit der Frist nach § 309 Nr. 1 BGB über die Unwirksamkeit kurzfristiger Preiserhöhungen im Bereich der Gestaltung rechtsgeschäftlicher Schutzrechte durch Allgemeine Geschäftsbedingungen.
Rz. 17
Die Regelung des § 29 Abs. 1 UStG bezieht sich nach der Formulierung "vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes" auf das UStG 1980, das mWv. 1.1.1980 in Kraft getreten ist. Folgeänderungen des UStG führen über die Regelung des § 29 Abs. 2 UStG allerdings zu dem selben Rechtsergebnis.
Rz. 18
Der Vertrag muss zwischen den Vertragsparteien vor dem jeweiligen Stichtag rechtskräftig abgeschlossen worden sein. Dies bedeutet, dass § 29 Abs. 1 UStG wegen seines Bezugs auf das UStG 1980 nur auf Verträge anzuwenden ist, die vor dem 1.9.1979 abgeschlossen worden sind. Für die temporäre Steuersatzabsenkung für Umsätze, die in der Zeit v. 1.7. bis 31.12.2020 ausgeführt wurden, bedeutet dies, dass Ausgleichsansprüche bei der Absenkung der Steuersätze zum 1.7.2020 nach § 29 UStG für Verträge unter den weiteren Voraussetzungen geltend gemacht werden können, die vor dem 1.3.2020 abgeschlossen worden sind. Aus der Wiederanhebung der Umsatzsteuersätze zum 1.1.2021 betrifft das Verträge, die vor dem 1.9.2020 abgeschlossen wurden (bei der letzten regulären Änderung des Regelsteuersatzes von 16 % auf 19 % zum 1.1.2007 betraf das alle Verträge, die vor dem 1.9.2006 abgeschlossen wurden).
Rz. 18a
Im Rahmen der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie war Anfang Juni 2020 angekündigt worden, die Umsatzsteuersätze temporär für Umsätze abzusenken, die in der Zeit vom 1.7. bis 31.12.2020 ausgeführt wurden. Die Umsetzung erfolgte durch das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz am 29.6.2020 mWv 1.7.2020. Die bisher als Reaktionszeit für Wirtschaft und Verwaltung angenommenen vier Monate waren damit nicht einmal ansatzweise eingehalten. In solchen Fällen scheint es wenig überzeugend starr an der Frist festzuhalten, da die Vertragsparteien auch bei sorgfältigster Vertragsgestaltung vor Anfang Juni 2020 keine Ahnung über eine kurzfristig bevorstehende Steuersatzänderung...