Rz. 19
Eine Richtlinie ist nach Art. 288 Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, lässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel zu ihrer Umsetzung in nationales Recht. Anders als die Verordnung muss eine Richtlinie somit in innerstaatliches Recht transformiert werden, um rechtliche Wirkung zu entfalten. Die Umsetzung muss nicht zwangsläufig im Wege gesetzgeberischer Maßnahmen erfolgen. Auch Verwaltungsanweisungen können Unionsrecht in nationales Recht transformieren. Die Richtlinie ist eine spezifisch unionsrechtliche Form des Rechtsakts. Sie dient im Wesentlichen der Rechtsangleichung, nicht aber der Rechtsvereinheitlichung. Aufgrund der Notwendigkeit der Transformation kommt es immer wieder dazu, dass Richtlinien nicht, nicht vollständig oder nicht in der dafür festgesetzten Frist von den nationalen Stellen umgesetzt worden sind. Für diese Fälle hat der EuGH entschieden, dass Richtlinien entgegen dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV auch ohne nationalen Umsetzungsakt Anwendung finden können.
Rz. 20
Nach inzwischen ständiger EuGH-Rechtsprechung kann sich ein Steuerpflichtiger gegenüber einer für ihn nachteiligen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts unmittelbar auf eine für ihn günstigere Bestimmung einer Richtlinie berufen, wenn der nationale Gesetzgeber es versäumt hat, diese fristgemäß und korrekt in innerstaatliches Recht umzusetzen. Ein solches Berufungsrecht hängt jedoch von bestimmten Bedingungen ab, die der EuGH in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat:
- Die Richtliniennorm muss dem Steuerpflichtigen einen positiven Anspruch gegenüber dem Staat geben (z. B. Anspruch auf eine Umsatzsteuerbefreiung oder Anspruch auf Freistellung von der Eigenverbrauchsbesteuerung).
- Sie muss hinreichend klar und genau sein.
- Sie muss ferner inhaltlich unbedingt (bedingungsunabhängig) und damit in ihrem Wesen geeignet sein, unmittelbare Wirkungen zu erzeugen. Sie darf also den Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht keinen Gestaltungsspielraum lassen.
Rz. 21
Aus diesem Berufungsrecht leitet sich die Rechtsfolge her, dass der Richtliniennorm ein Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem innerstaatlichem Gesetzesrecht zukommt. Das BVerfG hat die Rechtsprechung des EuGH in seinen Beschlüssen v. 8.4.1987 und v. 4.11.1987 als zulässige Rechtsfortbildung gebilligt und entschieden, dass dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts durch das Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag i. V. m. Art. 24 Abs. 1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist. Soweit die vorgenannten Voraussetzungen der EuGH-Rechtsprechung für ein Berufungsverbot der Steuerpflichtigen vorliegen, ist der Anwendungsvorrang einer Richtliniennorm vor entgegenstehendem innerstaatlichem Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG von der Verwaltung ebenso zu beachten wie von den Gerichten. Dies hat auch der EuGH ausdrücklich bestätigt.
Rz. 22
Die Entscheidung, ob einer konkreten Richtlinienbestimmung eine Vorrangwirkung zukommt, ist unzweifelhaft, wenn hierzu bereits eine Entscheidung des EuGH vorliegt, in der dieser den Anwendungsvorrang festgestellt hat. In diesen Fällen sind schon bisher stets Verwaltungsregelungen getroffen worden, wonach der vom EuGH festgestellte Anwendungsvorrang bestimmter Richtliniennormen allgemein in allen gleichgelagerten Fällen zu beachten ist.
Rz. 23
Der Anwendungsvorrang einer bestimmten Richtliniennorm, den der EuGH gegenüber einer konkreten deutschen Vorschrift festgestellt hat, ist auch gegenüber anderen Vorschriften zu beachten, die auf ein und derselben Richtliniennorm beruhen. Es ist nicht erforderlich, dass der EuGH den Vorrang der Richtlinienbestimmung gerade gegenüber einer konkreten innerstaatlichen Vorschrift feststellt. Es genügt vielmehr, dass er die unmittelbare Geltung der betreffenden Richtliniennorm festgestellt hat.
Rz. 24
Aus einem vom EuGH festgestellten Anwendungsvorrang einer bestimmten Richtlinienvorschrift ist zu folgern, dass auch ein Vorrang einer anderen (parallelen) Richtlinienvorschrift zu beachten ist, die inhaltlich im Wesentlichen mit der Richtlinienvorschrift übereinstimmt, über die der EuGH konkret entschieden hat. Dies gilt aufgrund des EuGH-Urteils v. 22.6.1989 jedenfalls dann, wenn die Verwaltung aufgrund eigener Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Steuerpflichtiger sich unmittelbar auf diese parallele Richtlinienvorschrift berufen kann. Einer speziellen Feststellung durch den EuGH bedarf es hierfür nicht. Das EuGH-Urteil v. 22.6.1989 verlangt die Nichtanwendung des nationalen Rechts selbst dann schon, wenn überhaupt noch keine einschlägige EuGH-Entscheidung vorliegt.
Rz. 25
Der Anwendungsvorrang einer Richtliniennorm, die der EuGH verbindlich ausgelegt hat, setzt eine ausdrückliche Feststellung dieses Vorrangs in der Entscheidung nicht voraus. Die Verwaltung ist hiernach sogar dann schon verpflichtet, eine nationale Rechtsvorschrift auf ihre Richtlinien-Konfor...