Rz. 284
Art. 178 MwStSystRL regelt die technischen Modalitäten für den Vorsteuerabzug. Danach muss der Unternehmer insbesondere über eine entsprechende Rechnung des leistenden Unternehmers verfügen oder bei Einfuhren über ein entsprechendes Dokument, aus dem sich die abziehbare Steuer ergibt. Nach Art. 179 MwStSystRL wird der Vorsteuerabzug für den entsprechenden Erklärungszeitraum global vorgenommen. Nach Art. 183 MwStSystRL können die Mitgliedstaaten bei Vorsteuerüberhängen den Überschuss entweder auf den folgenden Erklärungszeitraum vortragen lassen oder ihn nach den von ihnen festgelegten Einzelheiten erstatten. Erstattungsfähige Vorsteuerbeträge können von den Mitgliedstaaten sicherheitshalber dann zurückbehalten werden, wenn der Verdacht von Steuerhinterziehung besteht oder der Fiskus einen Steueranspruch aus einem anderen Zeitraum hat.
Zur Zurückbehaltung von Vorsteuerguthaben wegen einer Außenprüfung vgl. EuGH v. 14.5.2020.
Nach 178 MwStSystRL ist eine nationale Regelung unzulässig, wonach die Ausübung des Rechts auf Abzug der auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb anfallenden MwSt im gleichen Steuerzeitraum wie dem, in dem die MwSt abzuführen ist, davon abhängig gemacht wird, dass die geschuldete MwSt in der Steuererklärung angemeldet wird, die innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Ablauf des Monats abzugeben ist, in dem die Steuerpflicht für den Erwerb der Waren entstanden ist.
Zwar lässt Art. 183 MwStSystRL einen gewissen Spielraum erkennen. Die Erstattungsmodalitäten dürfen aber nicht dazu führen, dass sie den Neutralitätsgrundsatz der MwSt verletzen und den Unternehmer ganz oder z. T. mit MwSt belasten. Deshalb muss die Erstattung von Vorsteuerguthaben innerhalb einer angemessenen Frist und durch Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichartige Weise erfolgen. Keinesfalls darf dem Unternehmer durch die gewählte Erstattungsmethode ein finanzielles Risiko entstehen. Der Vorsteuerabzug kann nicht mit der Begründung verweigert werden, dass die im nationalen Recht vorgesehene Frist für die Ausübung des Vorsteuerabzugs zum Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen beginnt und im Zeitpunkt der Nachversteuerung beim leistenden Unternehmer bereits abgelaufen war. Zwar ist eine Ausschlussfrist für die Ausübung des Vorsteuerabzugs grundsätzlich nicht unvereinbar mit dem Unionsrecht, wenn die Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz). Ein solcher Ausschluss des Vorsteuerabzugs ist aber jedenfalls dann ungerechtfertigt, wenn es für den Vorsteuerabzugsberechtigten unmöglich ist, das Abzugsrecht vor der Berichtigung der Steuer auf der Ausgangsseite durch den leistenden Unternehmer auszuüben, weil noch keine berichtigte Rechnung erteilt wurde und der Vorsteuerabzugsberechtigte keine Kenntnis hat, dass für den Eingangsumsatz ein höherer Steuersatz gilt.
Die Art. 184 bis 186 MwStSystRL stehen einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, wonach die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Wirtschaftsteilnehmers, das die Liquidation dieses Vermögens zugunsten der Gläubiger des Wirtschaftsteilnehmers impliziert, automatisch die Verpflichtung für den Betroffenen mit sich bringt, die Vorsteuerabzüge zu berichtigen, die er für Gegenstände und Dienstleistungen vorgenommen hat, die er vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen erworben hat, wenn die Eröffnung eines solchen Verfahrens der Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers im Sinne von Art. 9 MwStSystRL, namentlich zum Zweck der Liquidation des betreffenden Unternehmens, nicht entgegenstehen kann.
Nach Art. 184 bis 187 MwStSystRL ist ein Unternehmer verpflichtet, die Vorsteuerabzüge für den Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen, die zur Herstellung von Investitionsgütern bestimmt sind, in dem Fall zu berichtigen, dass die hergestellten Investitionsgüter nicht im Rahmen steuerpflichtiger wirtschaftlicher Tätigkeiten verwendet wurden und es auch nie werden, weil der Eigentümer (Anteilseigner) dieses Unternehmers entschieden hat, ihn in Liquidation zu versetzen, und die Streichung dieses Steuerpflichtigen aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen beantragt wurde und erfolgt ist. Die Gründe – wie stetig zunehmende Verluste, fehlende Aufträge und Zweifel des Anteilseigners des Steuerpflichtigen an der Rentabilität der beabsichtigten wirtschaftlichen Tätigkeit –, die die Entscheidung, diesen Unternehmer in Liquidation zu versetzen, und folglich die Einstellung der beabsichtigten steuerpflichtigen wirtschaftlichen Tätigkeit rechtfertigen können, wirken sich nicht auf die Verpflichtung dieses Unternehmers aus, die betreffenden Vorsteuerabzüge zu berichtigen...