Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Krankenversicherung. Krankengeld. Aufforderung zur Stellung eines Antrags auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ohne Anhörung. Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes wegen Ermessensnichtgebrauch. Berechtigung der Widerspruchsbehörde zu eigener Ermessensabwägung. Neuentscheidung über Fristsetzung zur Antragstellung bei vorangegangenem Aufforderungs-Fristsetzungsverwaltungsakt ohne Anhörung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein ohne vorherige Anhörung und allein unter Hinweis auf die durch den Medizinischen Dienst festgestellte erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit erlassener Verwaltungsakt, mit dem die Krankenkasse auf der Grundlage von § 51 Abs 1 S 1 SGB V einen Versicherten aufgefordert hat, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen, ist wegen Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig.
2. Die Widerspruchsbehörde ist bei einem Ermessensausfall oder -fehlgebrauch im Ausgangsbescheid befugt, selbst Ermessenserwägungen anzustellen und sie ggf an die Stelle der Ausgangsbehörde zu setzen (BSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R = BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1, RdNr 38). In diesem Fall ist jedoch erforderlich, dass die Widerspruchsbehörde entweder nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens einen neuen Verwaltungsakt erlässt, welcher dann gem § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens wird oder die erforderlichen Ermessenserwägungen bei Erlass des Widerspruchsbescheides nachholt.
3. Die Nachholung der bei Erlass des Ausgangsbescheides fehlerhaft unterbliebenen Ermessensentscheidung gebietet es, dass die Krankenkasse nicht nur ihr im Rahmen des § 51 Abs 1 S 1 SGB V eingeräumtes Ermessen über das "Ob" der Aufforderung ausübt, sondern gleichzeitig im Rahmen des ihr eingeräumten "Auswahlermessens" auch über den Zeitpunkt der Antragstellung unter Berücksichtigung der gesetzlich vorgesehenen Mindestfrist neu entscheidet; das gilt nicht zuletzt dann, wenn die Krankenkasse den Aufforderungs-Fristsetzungsverwaltungsakt ohne Anhörung des Betroffenen erlässt und bei Erlass des Widerspruchsbescheides die im Ausgangsbescheid vorgenommene Fristsetzung zeitlich bereits überholt war, sodass es dem Versicherten zum Zeitpunkt der (nachgeholten) Ermessensentscheidung aufgrund des Ablaufs der 10-Wochen-Frist objektiv unmöglich war, den geforderten Antrag nunmehr fristgerecht zu stellen.
Tenor
1. Der Bescheid vom 7. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Januar 2022 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte ist verpflichtet die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Einstellung der Krankengeldzahlung - hier insbesondere die Rechtmäßigkeit der Aufforderung des Klägers zur Beantragung von medizinischen Leistungen zur Rehabilitation.
Der 1977 geborene Kläger ist bei der Beklagten aufgrund der Beschäftigung als Bauleiter seit Anfang 2015 krankenversichert. Er ist seit Februar 2021 an einem hepatisch metastasierten Adenokarzinoms des Rektums erkrankt. Aufgrund dieser Erkrankung wurde ihm ärztlicherseits seit dem 3. März 2021 fortlaufend eine Arbeitsunfähigkeit attestiert und er bezog nach dem Ende der Lohnfortzahlung seit dem 30. März 2021 laufend Krankengeld in Höhe von kalendertäglich 62,64 € (brutto) bzw. 54,89 €).
Mit dem mit Rechtbehelfsbelehrung versehenen Schreiben vom 7. Oktober 2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass der Medizinische Dienst (MD) ihr mitgeteilt haben, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers erheblich gefährdet oder gemindert sei, und forderte ihn auf, einen Antrag auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation zu stellen, damit die Maßnahme schnellstmöglich nach Abschluss der Primärtherapie erfolgen könne. Gleichzeitig wies die Beklagte den Kläger daraufhin, dass der Antrag auf medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation innerhalb von 10 Wochen gestellt werden müsse. Andernfalls würde der Anspruch auf Krankengeld ab dem 21. Dezember 2021 entfallen. Dieses Schreiben würde auch als Anhörungsschreiben gelten und dem Kläger die Möglichkeit geben, zu der Aufforderung Stellung zu nehmen.
Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 3. November 2021 unter Verweis auf den beigefügten Arztbrief der onkologischen Tagesklinik B-Stadt vom1. November 2021 Widerspruch und bat um eine umfassende Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der aktuellen Befunde aus November 2021. Er befinde sich dort aktuell in Behandlung. Nach der Einschätzung der Ärzte sei ein Antrag auf Reha alles andere als unterstützend, sondern zum jetzigen Zeitpunkt nicht zielführend. Das Ziel der Behandlung sei es, nach der geplanten Leber-OP eine Besserung des Gesundheitszustandes zu erreichen und damit die Wiederaufnahme ins Arbeitsleben möglich zu machen. Eine jetzige Beantragung auf Reha und die damit verbundene Prüfung auf Erwerbsminderungsrente sei viel zu früh und wäre voreilig, denn die bestehende Erwerbsminderung sei nur vorübergehend und nicht dauerhaft.
Die Beklagte informie...