Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 3
Gegenstand des § 106b sind Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei verordneten Leistungen. Eingebürgert hat sich bei unwirtschaftlichen Verordnungen der Begriff Arzneimittelregress (vgl. Engelhard, in: juris-PK SGB V, § 106 Rz. 7), der nicht verschuldensabhängig ist (BSG, Beschluss v. 10.10.2023, B 6 KA 34/22 B). In dem Wort "Regress" kommt schon zum Ausdruck, dass es sich um einen besonderen Typus eines Schadensersatzanspruchs handelt. In Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift ist klargestellt, dass die neu strukturierte und regionalisierte Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen für Verordnungen ab 1.1.2017 gilt. Das in Art. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GKV-VSG auf den 23.7.2015 vorgezogene Inkrafttreten der Vorschrift war darauf zurückzuführen, dass für die Einführung der Neuregelung in die Prüfpraxis Zeit benötigt wurde, weil auf der Bundesebene zuerst die Rahmenvorgaben und danach auf der Landesebene die Vereinbarungen nach Abs. 1 Satz 1 verabschiedet werden mussten. Weil zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des GKV-VSG aber nicht davon ausgegangen werden konnte, dass die Vereinbarungen auf der jeweiligen KV-Ebene bis zum Ablauf der gesetzlich bestimmten Termine einvernehmlich geregelt waren und um Zeitdruck auf die regionalen Vertragspartner auszuüben, sah Abs. 4 alternativ eine schiedsamtliche Entscheidungen auf der Landesebene vor, die aber zwangsläufig eine weitere Zeitverzögerung bedeutet hätte. Eine Klage gegen die Festsetzung des Vertragsinhalts durch das regionale Schiedsamt (vgl. § 89) hätte aber nach Abs. 4 Satz 2 in der bis zum 10.5.2019 geltenden Fassung keine aufschiebende Wirkung gehabt, die Festsetzung des Vertragsinhaltes wäre für die Beteiligten bindend gewesen. Um aber ab 1.1.2017 keine Unterbrechung bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen eintreten zu lassen, sah Abs. 4 Satz 3 außerdem vor, dass bis zu einer regionalen Vereinbarung nach Abs. 1 auf der jeweiligen KV-Ebene die Regelungen in den §§ 84, 106, 296 und 297 in der am 31.12.2016 bestehenden Fassung fortgelten. Dies galt aber auch für die ärztlich verordneten Leistungen, für welche in der Zeit vom 23.7.2015 bis 31.12.2016 Arzneiverordnungsblätter (Muster 16) ausgestellt worden waren. Letztlich waren diese Übergangsbestimmungen aber ohne Auswirkung geblieben, weil in allen KV-Bereichen rechtzeitig neue Vereinbarungen als Bestandteil der Prüfvereinbarungen nach § 106 Abs. 1 i. d. F. v. 1.1.2017 geschlossen werden konnten.
Rz. 4
Grippeschutzimpfstoffe werden von den vertragsärztlichen Leistungserbringern auf der Grundlage von Vereinbarungen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mit den Verbänden der Krankenkassen nicht personenbezogen, sondern als Sprechstundenbedarf zur vertragsärztlichen Versorgung verordnet. Impfstoffe sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Arzneimittel (auch) i. S. d. § 31 (vgl. BSG, Urteil v. 25.1.2017, B 6 KA 7/16 R), sodass ihre vertragsärztliche Verordnung im Rahmen des Sprechstundenbedarfs grundsätzlich auch der Prüfung der Wirtschaftlichkeit unterliegt.
Rz. 5
Ein Personenbezug bei saisonalen Grippeschutzimpfungen, die Krankenkassen für ihre Versicherten freiwillig als Satzungsleistungen übernehmen (vgl. § 20i), hätte im Normalfall bedeutet, dass der Versicherte vom vertragsärztlichen Leistungserbringer ein Rezept über den Grippeimpfstoff bekommt, welches er in der Apotheke einlöst und dann zum vertragsärztlichen Leistungserbringer zurückkehrt, um sich gegen Grippe impfen zu lassen. Dieser umständliche und für alle Beteiligten zeitraubende Versorgungsweg, in dessen Verlauf der Versicherte z. B. wegen allgemein geäußerter negativer Aussagen zu Impfungen an sich und zur Grippeschutzimpfung im Besonderen oder wegen einer in der betreffenden Saison leichter ausgefallenen Grippehäufigkeit von seiner Impfung auch wieder Abstand nehmen könnte, schadet insgesamt dem vom Gesetzgeber angestrebten Ziel einer möglichst flächendeckenden Versorgung mit Grippeschutz-Impfleistungen bei den gefährdeten Personengruppen, welche die Krankenkassen nach § 132e i. V. m. § 20i zu gewährleisten haben. Wegen herstellungsbedingter Besonderheiten, verbunden mit kurzen Vorbestellungsfristen und regionalen Unterschieden bei der Bestellung dieses Impfstoffs für den Sprechstundenbedarf, können sich weitere Probleme hinsichtlich der Bestellmenge und der Zahl der tatsächlich durchgeführten Grippeschutzimpfungen ergeben, die wiederum die Wirtschaftlichkeit der im Rahmen des Sprechstundenbedarfs verordneten Impfdosen betreffen.
Rz. 6
Nach Abs. 1a i. d. F. des TSVG gilt mit Wirkung zum 11.5.2019 bei Verordnungen saisonaler Grippeschutzimpfstoffe eine angemessene Überschreitung der Menge der Impfdosen gegenüber den tatsächlich erbrachten Impfungen grundsätzlich nicht als unwirtschaftlich. Was eine angemessene Überschreitung sein soll, regeln die regionalen Vereinbarungen nach Abs. 1. In seiner Gesetzesbegründung hatte der Ausschuss für Gesundheit zum Ausdruck gebracht, dass eine mindestens 10 %ige Überschrei...