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Integrationsverträge konnten bis 31.12.2020 nach der bisherigen Fassung des Abs. 1 Satz 2 nur über eine "interdisziplinär-fachübergreifende" oder über eine "verschiedene Leistungssektoren übergreifende" Versorgung geschlossen werden (so auch BSG, Urteil v. 6.2.2008, B 6 KA 27/07 R). Eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung setzt nach der Urteilsbegründung eine Zusammenarbeit von Hausärzten und Fachärzten oder von Fachärzten unterschiedlicher Gebiete voraus. Die Kooperationen müssen die Fachgebietsgrenzen des ärztlichen Weiterbildungsrechts überschreiten. Sie müssen zudem im ambulanten Bereich über die traditionelle Zusammenarbeit durch Überweisung an Ärzte eines anderen Fachgebiets bzw. im stationären Bereich über die traditionelle Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachgebiete innerhalb eines Krankenhauses hinausgehen. Die traditionelle Zusammenarbeit zwischen einem Chirurgen und einem Anästhesisten stellt daher keine integrierte Versorgung dar, egal ob die Versorgung des Patienten ambulant oder stationär erfolgt. Erforderlich ist für die integrierte Versorgung vielmehr ein Konzept längerfristiger, gemeinsam aufeinander abgestimmter Behandlungen von Haus- und Fachärzten oder von Fachärzten unterschiedlicher Gebiete.
Eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung setzt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zunächst voraus, den gesetzlich nicht definierten Begriff der Leistungssektoren durch eine am Zweck der besonderen Versorgung orientierte Auslegung zu bestimmen. Die Zielrichtung dieser Versorgungsform besteht vor allem darin, die starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu durchbrechen und den Krankenkassen die Möglichkeit zu eröffnen, außerhalb der bisherigen Regelversorgung eine alternative Versorgungsstruktur zu entwickeln. Es soll eine Verzahnung der verschiedenen Leistungssektoren stattfinden, um einerseits eine wirtschaftlichere Versorgung zu ermöglichen und andererseits für die Versicherten die Behandlungsabläufe zu verbessern (z. B. Vermeidung/Verkürzung der Wartezeiten, Vermeidung von Doppeluntersuchungen und Behandlungsdiskontinuitäten). Ausgehend von dieser allgemeinen Zielsetzung des Gesetzes ist der Begriff "leistungssektorenübergreifende Versorgung" in einem zweiten Schritt funktionell zu bestimmen. Ausgangspunkt ist jeweils das Leistungsgeschehen und dessen inhaltlicher Schwerpunkt. "Übergreifend" ist dementsprechend eine Versorgung, die Leistungsprozesse, die in der traditionellen Versorgung inhaltlich und institutionell getrennt sind, nunmehr verknüpft. Behandlungsansatz und Ausrichtung des einzelnen Leistungsprozesses (z. B. hausärztliche Versorgung, ambulante Versorgung insgesamt, operative Behandlung, medizinische Rehabilitation) geben den entscheidenden Hinweis darauf, ob einzelne Behandlungsmaßnahmen Teil desselben Leistungssektors sind oder unterschiedlichen Leistungssektoren angehören. Eine Operation (z. B. Implantation eines neuen Gelenks) und die anschließende Rehabilitation (z. B. Mobilisierung) dienen unterschiedlichen medizinischen Zwecken und sind in der Regelversorgung auch institutionell getrennt. Insoweit betreffen sie auch verschiedene Leistungssektoren i. S. d. Abs. 1 Satz 2. Daraus kann allerdings nicht abgeleitet werden, nur solche Verträge seien von Abs. 1 Satz 2 erfasst, die Leistungen aus den beiden "Hauptsektoren" anbieten. Vielmehr sind unter Zugrundelegung des funktionellen Ansatzes sowohl innerhalb des ambulanten als auch innerhalb des stationären Hauptsektors weitere Leistungssektoren zu unterscheiden, die Gegenstand von Selektivverträgen sein können. Beispiel für ein besonderes Versorgungsangebot ohne Einbeziehung des stationären Sektors ist etwa die Verzahnung von ambulanten Operationen und anschließender Versorgung der Patienten in ambulanten Rehabilitationseinrichtungen. Auch innerhalb des stationären Behandlungsbereichs ist eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung möglich und unter Umständen vom Regelungszweck der integrierten Versorgung sogar geboten. So kann etwa die Verknüpfung der Akutbehandlung in einem Krankenhaus – z. B. Durchführung einer Operation oder Behandlung eines Schlaganfalls – mit der anschließenden Rehabilitation in geeigneten stationären Einrichtungen Gegenstand eines Selektivvertrages sein. Auch zwischen dem Akutkrankenhaus und dem Träger einer stationären Rehabilitationseinrichtung bestehen im traditionellen Versorgungssystem Schnittstellenprobleme, die im Interesse der betroffenen Patienten durch ein Versorgungsangebot aus einer Hand überwunden werden können (so auch BSG, Urteil v. 6.2.2008, B6 KA 5/07 R).
Nach der Intention des Gesetzgebers soll sich die besondere Versorgung zu einer zweiten Säule neben der Regelversorgung entwickeln; zusammenfassend wird in der Gesetzesbegründung zum GMG von einem Wettbewerb zwischen verschiedenen Versorgungsformen für eine patientengerechtere, bedarfsgerechtere und effizientere Versorgung gesprochen. Ein solcher Wettbewerb s...