Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 2
Die Bedeutung der Beitragssatzstabilität kommt schon darin zum Ausdruck, dass die Vorschrift in den Allgemeinen Grundsätzen im Ersten Abschnitt des Vierten Kapitels platziert ist (Wiegand, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 71 Rz. 9). Die Vorschrift korrespondiert mit § 4 Abs. 4, wonach die Krankenkassen bei der Durchführung ihrer Aufgaben und in ihren Verwaltungsangelegenheiten sparsam und wirtschaftlich zu verfahren haben und dabei die Ausgaben so ausrichten, dass Beitragserhöhungen ausgeschlossen werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach Ausnutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven nicht zu gewährleisten. Die Bedeutung der Vorschrift kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie mehr als ein unverbindlicher Programmsatz ist (BSG, Urteil v. 10.5.2000, B 6 KA 20/99 R; Urteil v. 10.5.2017, B 6 KA 5/16 R). Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ist auch bei Schiedssprüchen zu beachten, weil er eine Grenze für Vergütungsvereinbarungen darstellt und der Gesetzgeber ungeachtet der Festlegung in § 241 an dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität festgehalten hat.
Inhaltlich sind in der Norm neben der Pflicht zur Beitragssatzstabilität Grenzen zur Veränderungsrate (Abs. 2), die Festlegung der Veränderungsrate (Abs. 3), die Überprüfung durch die Aufsichtsbehörden für bestimmte Leistungen (Abs. 4), ein Informationsrecht der obersten Verwaltungsbehörden (Abs. 5) und die Festlegung von Maßnahmen bei Rechtsverstößen geregelt.
Reformvarianten der Bürgerversicherung und des Pauschalprämienmodells sind bisher nicht umgesetzt worden, weil sie keine signifikanten Vorteile zur Stärkung des Solidaritätsgedankens und einer größeren Beitragsgerechtigkeit ergeben (Klückmann, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 71 Rz. 12a).
1.1 Verfassungsmäßigkeit
Rz. 3
Das Prinzip der Beitragssatzstabilität ist sowohl unter dem Aspekt der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. GG) als auch möglicherweise unter Art. 2 GG zu betrachten. Die strikte Koppelung an die Beitragssatzstabilität ist aus Gründen des Gemeinwohls verfassungsrechtlich ohne Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG hinzunehmen (so schon BVerfG, Beschluss v. 14.5.1985, 1 BvR 449/82 zum Höchstpreissystem; vgl. auch neuerdings BVerfG, Beschluss v. 29.9.2022, 1 BvR 2380/21). Die Beitragssatzstabilität ist ein entscheidender Stützpfeiler der finanziellen Stabilität und dient der Begrenzung von Beitragssatzerhöhungen (vgl. auch Klückmann, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 71 Rz. 18; BSG, Urteil v. 28.1.2004, B 6 KA 112/03 B). Schon aus sozialstaatlichen Gründen sind die Krankenkassenbeiträge zu stabilisieren (Klückmann, a. a. O.).
Der Überlegung, unter dem Aspekt des Art. 2 Abs. 1 GG aus dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität einen Auftrag zur angemessenen Versorgung der Bevölkerung abzuleiten, wird in der Literatur zutreffend eine Absage erteilt (so Klückmann, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 71 Rz. 19). Es wird darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Gesundheitsversorgung für die Versicherten zumindest ausreichend ist. Das BSG ist sogar soweit gegangen, dass der Vorrang der Beitragssatzstabilität einzelnen Vergütungen der Vertragsärzte Grenzen setzt (BSG, Urteil v. 16.7.2003, B 6 KA 29/02 R; Beschluss v. 28.1.2004, B 6 KA 112/03 B).
1.2 Bedeutung der Norm
Rz. 4
Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung hängen ganz entscheidend davon ab, wie sich die Beitragssätze und damit der Großteil der Mittel zur Finanzierung der Krankenversicherung entwickeln (zur Finanzierung durch Beiträge, Zusatzbeiträge und sonstige Einnahmen vgl. §§ 220, 221, 221b, zum Begriff Beitragssatz vgl. §§ 241 bis 248). Die Beitragssätze für die verschiedenen Versichertengruppen werden aber nicht mehr von der einzelnen Krankenkasse festgesetzt, sondern der allgemeine Beitragssatz, aus dem sich die besonderen Beitragssätze ableiten, wird bundeseinheitlich vorgegeben, ab dem 1.1.2009 zunächst aufgrund einer Rechtsverordnung der Bundesregierung (vgl. § 241 in der bis 31.12.2010 gültigen Fassung), und ab 1.1.2011 per Gesetz (vgl. § 241 n. F.). Nachdem aufgrund des GKV-WSG der nur für Mitglieder und nicht für Arbeitgeber bestimmte zusätzliche Beitragssatz von 0,9 % (vgl. § 241a a. F.) mit Wirkung zum 1.1.2009 in den allgemeinen Beitragssatz integriert worden war, stieg der allgemeine Beitragssatz auf 15,5 %, von dem die Arbeitgeber bis zum 31.12.2014 einen Anteil von 7,3 % und die Mitglieder anteilig 8,2 % zu tragen hatten.
Mit Wirkung zum 1.1.2015 beträgt der allgemeine Beitragssatz 14,6 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung; er wird z. B. bei versicherungspflichtiger Beschäftigung hälftig von den Beschäftigten und deren Arbeitgebern getragen. Über die Einnahmeentwicklung hinausgehende Ausgabensteigerungen einer Krankenkasse können nur noch über einen in ihrer Satzung prozentual festgelegten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag der Mitglieder finanziert werden. Im Jahr 2020 war die AOK Sachsen-Anhalt die einzige Krankenkasse, die keinen individuellen Zusatzbeitrag erhebt.
Mit ...