Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 4
Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung hängen ganz entscheidend davon ab, wie sich die Beitragssätze und damit der Großteil der Mittel zur Finanzierung der Krankenversicherung entwickeln (zur Finanzierung durch Beiträge, Zusatzbeiträge und sonstige Einnahmen vgl. §§ 220, 221, 221b, zum Begriff Beitragssatz vgl. §§ 241 bis 248). Die Beitragssätze für die verschiedenen Versichertengruppen werden aber nicht mehr von der einzelnen Krankenkasse festgesetzt, sondern der allgemeine Beitragssatz, aus dem sich die besonderen Beitragssätze ableiten, wird bundeseinheitlich vorgegeben, ab dem 1.1.2009 zunächst aufgrund einer Rechtsverordnung der Bundesregierung (vgl. § 241 in der bis 31.12.2010 gültigen Fassung), und ab 1.1.2011 per Gesetz (vgl. § 241 n. F.). Nachdem aufgrund des GKV-WSG der nur für Mitglieder und nicht für Arbeitgeber bestimmte zusätzliche Beitragssatz von 0,9 % (vgl. § 241a a. F.) mit Wirkung zum 1.1.2009 in den allgemeinen Beitragssatz integriert worden war, stieg der allgemeine Beitragssatz auf 15,5 %, von dem die Arbeitgeber bis zum 31.12.2014 einen Anteil von 7,3 % und die Mitglieder anteilig 8,2 % zu tragen hatten.
Mit Wirkung zum 1.1.2015 beträgt der allgemeine Beitragssatz 14,6 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung; er wird z. B. bei versicherungspflichtiger Beschäftigung hälftig von den Beschäftigten und deren Arbeitgebern getragen. Über die Einnahmeentwicklung hinausgehende Ausgabensteigerungen einer Krankenkasse können nur noch über einen in ihrer Satzung prozentual festgelegten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag der Mitglieder finanziert werden. Im Jahr 2020 war die AOK Sachsen-Anhalt die einzige Krankenkasse, die keinen individuellen Zusatzbeitrag erhebt.
Mit der gesetzlichen Festlegung des allgemeinen Beitragssatzes kommt es nicht mehr in erster Linie auf den hergebrachten Grundsatz der Beitragssatzstabilität an, sondern auf das in Satz 1 genannte Ziel dieses Grundsatzes, die Vergütungsvereinbarungen mit den Leistungserbringern des IV. Kapitels so zu gestalten, dass Beitragserhöhungen ausgeschlossen werden. Der Titel der Vorschrift und die Klammer "Grundsatz der Beitragssatzstabilität" in Abs. 1 Satz 1passen jetzt nur noch bedingt zum angestrebten Ziel, dem Ausschluss von Beitragserhöhungen. Allerdings bleibt allein der prozentuale Beitragssatz das gesetzlich oder satzungsmäßig veränderbare Kriterium für die Beitragsberechnung, während das darauf bezogene Einkommen des Mitgliedes individuell zugrunde gelegt wird. Das Ziel, der Ausschluss von Beitragserhöhungen, gilt dem Grunde nach für die gesetzlich geregelten Beitragssätze (allgemeiner Beitragssatz bzw. die davon abgeleitete Beitragssätze) ebenso wie – jetzt noch stärker – für den kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz, den eine gesetzliche Krankenkasse ggf. dann erheben oder anheben muss, wenn ihr Finanzbedarf durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds (vgl. 4. Abschnitt) nicht mehr gedeckt ist. Jede Anhebung des kassenindividuellen Zusatzbeitragssatzes kann im Übrigen wegen des Sonderkündigungsrechts der Mitglieder die Wettbewerbssituation dieser Krankenkasse gegenüber den anderen gesetzlichen Krankenkassen schwächen, die für ihre Versicherten einen niedrigeren Zusatzbeitragssatz erheben. Deshalb haben alle Krankenkassen ein Interesse daran, bei den Vergütungsvereinbarungen überhöhte Ausgaben zu vermeiden, weil sich dies zwar nicht auf den gesetzlich festgelegten allgemeinen Beitragssatz, aber unmittelbar auf den kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz auswirken würde.
Rz. 5
Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität war ursprünglich in § 141 Abs. 2 a. F. als Auftrag an die Konzertierte Aktion fixiert, mit ihren jährlichen oder längerfristigen Empfehlungen zur Vergütungsveränderung in den einzelnen Versorgungsbereichen Beitragssatzerhöhungen zu vermeiden. Die Partner im Leistungserbringerrecht hatten in ihren Vereinbarungen über die Vergütung diesen Grundsatz zu beachten. Diese Aufgabe der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen war mit Wirkung zum 1.1.2004 entfallen bzw. auf die Vertragsparteien der Vergütungsverträge unmittelbar übergegangen. Mit Wirkung zum 1.1.2000 war das Gebot der Beitragssatzstabilität noch stringenter formuliert worden, nämlich "im Sinne eines Gesetzesbefehls", wie das damalige BMGS den Text erläutert hatte. Diese Formulierung galt als Ersatz für das ursprünglich vorgesehene, aber am Widerstand des Bundesrates gescheiterte Globalbudget in der gesetzlichen Krankenversicherung GKV insgesamt. Das BSG hat bei dieser Gesetzeslage bestätigt, dass der Grundsatz der Beitragssatzstabilität nicht als ein Programmsatz, sondern als verbindliche rechtliche Obergrenze für Vergütungsvereinbarungen und die an ihre Stelle tretenden Schiedssprüche zu verstehen ist. Nach Entstehungszusammenhang, Wortlaut und systematischer Stellung im SGB V habe der Gesetzgeber dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität Vorrang gegenüb...