Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 13
Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität stellt für sich gesehen keinen absolut unveränderbaren Wert dar. Wenn die notwendige medizinische Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, die einen verfassungsmäßigen Rang einnimmt, auch unter Ausschöpfung aller bekannten Wirtschaftlichkeitsreserven von einer Krankenkasse nicht mehr mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds finanziert werden kann, sind Zusatzbeiträge der Mitglieder zwingend geboten. Eine Ausnahme von der strikten Beachtung der Beitragssatzstabilität enthält auch § 85 Abs. 3 Satz 3, wenn Mehrausgaben aufgrund von Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 135 Abs. 1 (Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden) entstehen und keine gleich hohe Kompensation mit Minderausgaben durch Wegfall von Leistungen erfolgen kann. In diesem Fall wäre eine Überschreitung der Veränderungsrate möglich.
Rz. 14
Abs. 1 Satz 2 nennt als weitere Ausnahme die Ausgabensteigerungen, die aufgrund von gesetzlich vorgeschriebenen Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen entstehen. Nach der Volksweisheit "vorbeugen ist besser als heilen" und der allgemeinen Erkenntnis, dass Vorsorge und Früherkennung kurative Behandlungskosten einsparen können, verletzen Ausgabesteigerungen aufgrund einer vermehrten Inanspruchnahme dieser Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen nicht das Gebot der Beitragssatzstabilität. Es kommt hinzu, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Früherkennungsmaßnahmen (vgl. §§ 25, 26) von den Versicherten leider nicht so in Anspruch genommen werden, wie dies gesundheitspolitisch wünschenswert wäre, sodass jede Art von Einschränkung der Finanzierung der in Anspruch genommenen Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen kontraproduktiv wäre. Abgestellt ist aber nur auf die gesetzlich vorgeschriebenen Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen, sodass die Vertragspartner keine Möglichkeit haben, darüber hinaus Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen zu vereinbaren und damit den Grundsatz der Beitragssatzstabilität zu umgehen. Abs. 1 Satz 2 hat mit Wirkung zum 1.1.2003 die Ausnahmetatbestände um zusätzliche Leistungen erweitert, die im Rahmen zugelassener strukturierter Behandlungsprogramme (§ 137g) aufgrund der Anforderungen der Rechtsverordnung nach § 266 Abs. 8 Satz 1 erbracht werden. Die Rechtsverordnung regelt nach Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 das Nähere über die Festlegung der Anforderungen an die Zulassung der Programme nach § 137g hinsichtlich des Verfahrens der Einschreibung der Versicherten einschließlich der Dauer der Teilnahme und des Verfahrens der Verarbeitung der für die Durchführung der Programme erforderlichen personenbezogenen Daten.
Nachdem mit Wirkung zum 1.1.2012 die Anforderungen an die für strukturierte Behandlungsprogramme geeigneten chronischen Krankheiten nicht mehr durch Rechtsverordnung des BMG, sondern durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (vgl. § 137f) festgelegt werden, hatte der Gemeinsame Bundesausschuss zunächst damit begonnen, seine bisherigen Empfehlungen an das BMG zu den inhaltlichen Anforderungen solcher Programme schrittweise in Richtlinien zu überführen.
Mittlerweile hat der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Richtlinie zur Zusammenführung der Anforderungen an strukturierte Behandlungsprogramme nach § 137f Abs. 2 (DMP-Anforderungen-Richtlinie – DMP-A-RL) v. 20.3.2014, zuletzt geändert am 18.6.2020 und in Kraft getreten am 1.10.2020, die allgemeinen sowie die erkrankungsspezifischen Anforderungen an strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen (Disease-Management-Programme, DMP) festgelegt.
Diese Behandlungsprogramme beziehen sich auf die Behandlung chronisch Kranker und verfolgen das Ziel, durch Festlegung wissenschaftlich fundierter (evidenzbasierter) Leitlinien insbesondere die medizinische Behandlung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft, Qualitätssicherungsmaßnahmen und Schulung der Leistungserbringer und Versicherten zu verbessern und, wenn möglich, Kosten zu sparen. Zudem werden in der Richtlinie Vorgaben zur Dokumentation und Evaluation getroffen.
Die praktische Umsetzung der strukturierten Behandlungsprogramme für inzwischen 9 verschiedene Krankheitsarten erfolgt auf der Grundlage regionaler Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern (Vertragsärzte/Krankenhäuser), die vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) mit Blick auf die Erfüllung der Anforderungen geprüft und zugelassen werden müssen. Die Implementierung dieser auch als Disease-Management bekannt gewordenen Programme (DMP-Programme) kostet zusätzlich Geld, weil sich die Patienten in die Programme einschreiben, sie von den Leistungserbringern im Umgang mit der Krankheit geschult werden und weil umfangreiche Daten erhoben werden müssen nach den verbindlichen Vorgaben der o. a. Rechtsverordnung zur Durchführung des Risikoausgleichsverfahrens nach § 266 Abs. 8 Satz 1 bzw. der vorgenannten Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses. Nur zusätzliche Leistungen, die noch nicht Gegenstand der bisherigen Vergüt...