Prof. Dr. Volker Wahrendorf
2.1 Vorlagepflicht
Rz. 3
Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossenen Richtlinien sind dem BMG vorzulegen und können innerhalb von 2 Monaten beanstandet werden. Es besteht eine Vorlagepflicht. Sie ermöglicht der Aufsichtsbehörde, ihre Kontrollbefugnisse wahrzunehmen(vgl. Hannes, in: Hauck/Noftz SGB V, § 94 Rz. 14). Die Vorlagepflicht ist ihrem Inhalt nach bezogen auf wesentliche Änderungen oder Neuerungen. Darunter fallen keine redaktionellen Änderungen (Hannes, a. a. O.). Ausnahmen ergeben sich aus §§ 35a und 35b. Innerhalb welcher Zeit die Richtlinien vorgelegt werden müssen, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Da aber das Wirksamwerden der Richtlinien von der Vorlage abhängig ist, wird sich der Gemeinsame Bundesausschuss nicht lange Zeit lassen, die beschlossenen Richtlinien mit den tragenden Gründen, die sich z. B. auch mit den eingegangenen Stellungnahmen der Berechtigten auseinandersetzen, dem BMG vorzulegen. Die Frist für die aufsichtsrechtliche Prüfung durch das BMG von generell 2 Monaten ist bei Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 35 Abs. 1 (Gruppenbildung für Arzneimittel-Festbeträge) mit Wirkung zum 1.5.2006 auf 4 Wochen verkürzt worden, um das Festbetragsverfahren, welches wegen der differenzierten Gruppenbildung ohnehin sehr zeitaufwendig ist, zumindest im Verwaltungsvollzug etwas zu beschleunigen. Mit Wirkung zum 11.5.2019 gilt nach Abs. 1 Satz 2 HS 2 die verkürzte Beanstandungsfrist des BMG auch für die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Schutzimpfungen und anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe (vgl. § 20i Abs. 1 Satz 3). Die Schutzimpfungs-Richtlinie (Si-RLi) i. d. F. v. 21.6.2007, zuletzt geändert am 16.3.2023 und in Kraft getreten am 21.4.2021, regelt auf der Grundlage der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut die Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistungen der Versicherten auf Schutzimpfungen. Die Fristverkürzung geht auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zurück und hängt damit zusammen, dass in § 20i bereits die Frist für den Erlass bzw. die Änderung der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses im Interesse einer schnelleren Umsetzung der künftigen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut und damit einer rascheren Versorgung der Versicherten mit Schutzimpfungen auf 2 Monate verkürzt worden ist. Um der schnelleren Umsetzung der Versorgung mit Schutzimpfungen Rechnung zu tragen, ist auch die Beanstandungsfrist des BMG von 2 Monaten auf 4 Wochen verkürzt worden. Wird eine Beanstandungsfrist überschritten, ist eine gleichwohl erfolgte Beanstandung rechtswidrig (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 27.5.2015, L 7 KA 44/11 KL).
2.2 Einholung ergänzender Stellungnahmen
Rz. 4
Durch Abs. 1 Satz 3 ist dem BMG seit 1.4.2007 das Recht eingeräumt worden, vom Gemeinsamen Bundesausschuss zusätzliche Informationen und ergänzende Stellungnahmen im Rahmen der Richtlinienprüfung anzufordern. Die Anforderung ist auf das Objekt, die vorgelegte Richtlinie, bezogen, darf mithin nicht sachfremd sein. Der Gemeinsame Bundesausschuss ist verpflichtet, die Anforderung zu erfüllen, auch schon deshalb, weil der Lauf der Fristen von 2 Monaten oder 4 Wochen solange unterbrochen ist, bis die zusätzlichen Informationen und ergänzenden Stellungnahmen dem BMG vorliegen. Im Umkehrschluss ist der Gemeinsame Bundesausschuss nicht verpflichtet, seine Beschlüsse gegenüber der Aufsichtsbehörde zu begründen, obwohl das in gewisser Weise durch die tragenden Gründe passiert.
2.3 Beanstandungsrecht der Aufsichtsbehörde (Abs. 1 Satz 2)
Rz. 5
Die Möglichkeit, die Richtlinien zu beanstanden, schiebt das Inkrafttreten der Richtlinien bis zum Ablauf der 2-monatigen bzw. 4-wöchigen Beanstandungsfrist hinaus. Eine Beanstandung gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss ist bindend. Dadurch wird eine präventive Kontrolle vor Inkrafttreten der Richtlinien gewährleistet. Verzichtet das BMG durch frühzeitige Erklärung gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss auf eine Beanstandung, kann damit das Inkrafttreten beschleunigt werden. Eine Beanstandung ist als Verwaltungsakt einzuordnen, weil sie alle Elemente eines solchen beinhaltet. Eine Beanstandung kann sich auf Rechtsverstöße (BSG, Urteil v. 6.5.2009, B 6 A 1/08 R), aber auch auf sachlich-fachliche Kriterien der Richtlinien beziehen, nicht jedoch auf stilistische Formulierungen. Die Reichweite des Aufsichtsrechts schließt fachliche Zweckmäßigkeitserwägungen aus. Das Beanstandungsrecht, welches sich gelegentlich in eine Beanstandungspflicht umwandelt, wenn in den vorgelegten Richtlinientexten z. B. der Rahmen des Leistungs- oder des Vertragsarztrechts überschritten sein sollte, ist durch das Gesetz grundsätzlich nicht begrenzt. So hat das BSG im Urt. v. 16.11.1999 (B 1 KR 9/97) den in den Heil- und Hilfsmittel-Richtlinien vorgenommenen Ausschluss der medizinischen Fußpflege aus der vertragsärztlichen Versorgung als rechtswidrig bezeichnet, weil der Gemeinsame Bundesausschuss zu diesem Leistungsausschluss nicht befugt sei. Die Voraussetzungen für den Ausschluss eine...