Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 5
Die Möglichkeit, die Richtlinien zu beanstanden, schiebt das Inkrafttreten der Richtlinien bis zum Ablauf der 2-monatigen bzw. 4-wöchigen Beanstandungsfrist hinaus. Eine Beanstandung gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss ist bindend. Dadurch wird eine präventive Kontrolle vor Inkrafttreten der Richtlinien gewährleistet. Verzichtet das BMG durch frühzeitige Erklärung gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss auf eine Beanstandung, kann damit das Inkrafttreten beschleunigt werden. Eine Beanstandung ist als Verwaltungsakt einzuordnen, weil sie alle Elemente eines solchen beinhaltet. Eine Beanstandung kann sich auf Rechtsverstöße (BSG, Urteil v. 6.5.2009, B 6 A 1/08 R), aber auch auf sachlich-fachliche Kriterien der Richtlinien beziehen, nicht jedoch auf stilistische Formulierungen. Die Reichweite des Aufsichtsrechts schließt fachliche Zweckmäßigkeitserwägungen aus. Das Beanstandungsrecht, welches sich gelegentlich in eine Beanstandungspflicht umwandelt, wenn in den vorgelegten Richtlinientexten z. B. der Rahmen des Leistungs- oder des Vertragsarztrechts überschritten sein sollte, ist durch das Gesetz grundsätzlich nicht begrenzt. So hat das BSG im Urt. v. 16.11.1999 (B 1 KR 9/97) den in den Heil- und Hilfsmittel-Richtlinien vorgenommenen Ausschluss der medizinischen Fußpflege aus der vertragsärztlichen Versorgung als rechtswidrig bezeichnet, weil der Gemeinsame Bundesausschuss zu diesem Leistungsausschluss nicht befugt sei. Die Voraussetzungen für den Ausschluss eines Heilmittels sei grundsätzlich dem BMG als Verordnungsgeber der Rechtsverordnung nach § 34 vorbehalten. Das BSG ist hierbei ausdrücklich nicht von einer konkurrierenden Normsetzungszuständigkeit zwischen Verordnungsgeber einerseits und dem Gemeinsamen Bundesausschuss andererseits ausgegangen. Das BMG müsste es also in Zukunft beanstanden, wenn durch Richtlinien die Leistungsarten der GKV beschnitten werden sollten bzw. wenn dadurch in seine Kompetenz als Verordnungsgeber eingegriffen würde. Da § 34 für die Anordnung von Leistungsverboten bei Heilmitteln eine abschließende Regelung trifft, verbleiben für den Gemeinsamen Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 nur Bestimmungen, welche die Art und Weise der Leistungserbringung betreffen. Wird innerhalb der 2-Monats-Frist nicht beanstandet, treten die Richtlinien nach Veröffentlichung im BAnz in Kraft.
Rz. 6
Das Beanstandungsrecht der BMG aus Abs. 1 ist aber grundsätzlich auf eine Rechtskontrolle (Rechtsaufsicht) beschränkt; zu einer Zweckmäßigkeitsprüfung (Fachaufsicht) der Richtlinienbeschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses ist das BMG nicht berechtigt. Diese Einschränkung ergibt sich schon aus dem systemischen Verständnis der ärztlichen Selbstverwaltung. Prüfmaßstab für das BMG als Aufsichtsbehörde ist nach dem Grundsatz der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht, ob sich das Handeln der zu beaufsichtigenden Selbstverwaltungskörperschaft im Bereich des rechtlich noch Vertretbaren bewegt. Dabei muss die Aufsichtstätigkeit des BMG den Selbstverwaltungsbefugnissen des Gemeinsamen Bundesausschusses Rechnung tragen und ihm bei der ihm zugewiesenen Normsetzung einen gewissen Spielraum (Einschätzungsprärogative) überlassen (vgl. BSG, Urteil v. 6.5.2009, B 6 KA 1/08R; Hannes, in: Hauck/Noftz SGB V, § 94 Rz. 20; Roters, in: BeckOGK SGB V, § 94 Rz. 4).
Rz. 7
Ab 1.4.2007 kann die Nichtbeanstandung einer Richtlinie vom BMG mit Auflagen verbunden werden (Abs. 1 Satz 4). Zur Auflagenerfüllung kann das BMG dem Gemeinsamen Bundesausschuss eine angemessene Frist vorgeben. Das weniger einschneidende Aufsichtsmittel der Auflagenerteilung sichert dem BMG eine flexiblere Handhabung bei der Ausübung seiner aufsichtsrechtlichen Instrumente. Abgesehen vom Zeitgewinn bis zum Wirksamwerden der Richtlinie können über die Auflage z. B. rechtliche Hindernisse ausgeräumt werden, die der Nichtbeanstandung entgegenstehen. Dies erhöht vor allem die Rechtssicherheit beim Verfahren der Prüfung und Beanstandung der oft umfangreichen Richtlinie.
Rz. 8
Ist eine Richtlinie ganz oder teilweise beanstandet worden, erhält zunächst der Gemeinsame Bundesausschuss Gelegenheit, der Beanstandung abzuhelfen. Fristauslösend ist die Vorlage der Richtlinie bei der Aufsichtsbehörde. Danach beginnt eine neue 2-Monats-Frist, sobald die geänderten Richtlinien dem BMG wieder vorliegen.
Rz. 9
Dem BMG steht quasi letztinstanzlich das Recht zu, anstelle des Gemeinsamen Bundesausschusses selbst die Richtlinien zu erlassen oder die von ihm geltend gemachten Beanstandungen in den Richtlinien umzusetzen (Ersatzvornahme). Das Recht der BMG zur Ersatzvornahme ist aber nicht zwangsläufig mit umfassenden Gestaltungsbefugnissen verbunden, sondern wird im Fall der Rechtsaufsicht nur – und nur insoweit – eröffnet, als ein Rechtsverstoß des unter Aufsicht des BMG stehenden Gemeinsamen Bundesausschusses in Form von Untätigkeit vorangegangen ist. Nach dem vorgenannten Urteil des BSG v. 6.5.2009 könnte anderenfalls der Gemeinsame Bundesa...