Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 9
In einem Klageverfahren ist der Berufungsausschuss Partei. Der Berufungsausschuss ist ein Entscheidungsgremium und damit beteiligtenfähig (§ 70 Nr. 4 SGG). Da es sich um eine Angelegenheit des Vertrags(zahn)arztrechts handelt, wirken im Gerichtsverfahren als ehrenamtliche Richter ein Vertrags(zahn)arzt und ein Vertreter der Krankenkassen mit (§ 12 Abs. 3 SGG). Der Berufungsausschuss wird im Rechtsstreit durch seinen Vorsitzenden vertreten (§ 71 Abs. 4 SGG), dieser kann einen Vertreter bestellen. Eine Klage hat grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V), wenn nicht der Berufungsausschuss die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Die Regelung des § 96 Abs. 4 Satz 2 ist erforderlich, weil die Anrufung des Berufungsausschusses kein Widerspruch ist (vgl. Wahrendorf, in: Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 2. Aufl. 2021, § 86a Rz. 80).
Rz. 10
Mit der Möglichkeit, die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung im öffentlichen Interesse anzuordnen, ist dem Berufungsausschuss ein verfahrensrechtliches Instrument zur Beschleunigung des Verfahrens an die Hand gegeben worden (§ 97 Abs. 4). Der Beteiligte hat bei einem zusprechendem Beschluss dann die Möglichkeit, vorläufig seine Tätigkeit aufzunehmen und abzurechnen. Im Fall der Entziehung der Zulassung ist die weitere Ausübung der ärztlichen Zulassung untersagt. Wird dem Arzt der Status der Zulassung entzogen, beginnt die aufschiebende Wirkung mit der Einlegung des Rechtsbehelfs (BSG, MedR 2010 S. 128). Bei der Anfechtung von begünstigenden Statusentscheidung durch einen Konkurrenten tritt die aufschiebende Wirkung erst ein, wenn der Begünstigte davon Kenntnis erhält (BSG, MedR 2010 S. 128).
Mit der Anordnung wird die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage suspendiert. Im Rückschluss kann aus der Vorschrift abgeleitet werden, dass der Zulassungsausschuss die sofortige Vollziehung nicht anordnen kann (a. A. BSG, MedR 2013 S. 826; weitere Nachweise bei Kremer/Wittmann, Vertragsärztliches Zulassungsverfahren, Rz. 325). Dem Berufungsausschuss bleibt es unbenommen, nachdem ein Widerspruch eingelegt worden ist, die sofortige Vollziehung der Entscheidung des Zulassungsausschusses anzuordnen. Denn mit dem Widerspruch geht die Entscheidungskompetenz auf den Berufungsausschuss über.
Eine Unschärfe ergibt sich daraus, dass § 97 Abs. 4 die Anordnung der sofortigen Vollziehung im öffentlichen Interesse möglich macht, § 86 Abs. 2 Nr. 5 SGG die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch um das überwiegende Interesse eines Beteiligten erweitert. Praktisch notwendig ist die Regelung schon deshalb, um Konkurrentenwidersprüche effektiv zu lösen. Systematisch ist darauf hinzuweisen, dass § 86a SGG als das jüngere Gesetz § 97 Abs. 4 ergänzt (vgl. auch Bogan, in: BeckOK, SGB V, § 97 Rz. 14). Hinzuweisen ist auch darauf, dass gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 1 SGG das Gericht die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen kann.
Die Regel ist die aufschiebende Wirkung der Anrufung des Berufungsausschusses (§ 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V). Ein öffentliches Interesse zur Anordnung des sofortigen Vollzugs liegt vor, wenn die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen vertragsärztlichen Versorgung auf dem Spiel steht. Es handelt sich hierbei um ein verfahrensrechtliches Instrument, dem kein Verwaltungsaktcharakter zukommt (h. M. vgl. Wahrendorf, in: Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, § 86a Rz. 71). Bei der Anordnung sind das öffentliche Interesse und das private Interesse des betroffenen Arztes gegeneinander abzuwägen.
Es müssen besondere Gründe vorliegen, die dafür sprechen, dass der Beschluss sofort und nicht erst nach Bestandskraft vollzogen werden kann (s. BVerfG, Urteil v. 12.12.2001, 1 BvR 1571/00). Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nicht allein damit zu rechtfertigen, dass der Beschluss nach Auffassung des Berufungsausschusses rechtmäßig ist und auf die Gründe des Verwaltungsaktes verwiesen wird. Nicht umsonst heißt es in der Vorschrift des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG, dass das besondere öffentliche Interesse schriftlich begründet werden muss. Fehlt eine derartige Begründung, ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung fehlerhaft. Der Berufungsausschuss hat sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die sofortige Vollziehung geboten ist, um den Eintritt schwerer unzumutbarer Nachteile für den Begünstigten zu vermeiden, oder ob die Belange des anfechtenden Dritten der Vorrang gebührt.
Bei der Abwägung spielt der Grundrechtsschutz (Art. 12 GG) des betroffenen Arztes, die Gefährdung der Versorgung von Patienten in Form einer qualitativen Versorgungslücke und die Dringlichkeit der Entscheidung eine Rolle, was in den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einfließt. Wird in die Berufsfreiheit des Arztes eingegriffen, sind hohe Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu stellen.
Der Ermessensspielraum kann im Einzelfall ganz oder teilweise eingeschränkt sein, je nachdem, wie z. B. in einem Entziehungsverfahren nach § 95 Abs. 6 die gröblichen Pflichtverletzung...