Prof. Dr. Werner Gleißner
Bei dieser Beurteilung ist jedoch zu beachten, dass bei dieser Ableitung der Insolvenzwahrscheinlichkeit basierend auf Plan-Daten implizit unterstellt wird, dass sich aus vorhandenen Risiken keine (negativen) Planabweichungen ergeben. Für eine präzisere Beurteilung sind die Auswirkungen der bestehenden Risiken erforderlich, was eine Risikoanalyse und Risikoaggregation erfordert (siehe Abschnitt 6). Welche Auswirkungen Risiken potenziell haben, zeigt schon die Berechnung eines „Stressszenarios“ im Fallbeispiel (Stresstest). Angenommen wird ein Stressszenario mit einem Umsatzrückgang von 20 % bei einer gleichzeitigen Verschlechterung der EBIT-Marge um zwei Prozentpunkte im Falle eines Konjunktureinbruchs.
Bei diesen unter Berücksichtigung der Kostenvariabilität berechneten Stressszenarien reduziert sich das EBIT auf nur noch 2,4 Millionen (und auch die geplante Eigenkapitalquote ist etwas niedriger). Im Stressszenario erhöht sich entsprechend Formel 1 die Insolvenzwahrscheinlichkeit. Da im Unternehmen eine Vielzahl von Risiken existiert, sind deren Gesamtauswirkungen zu berücksichtigen. Statt eines mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Stressszenarios wird, wie oben erwähnt, eine ausreichend große repräsentative Anzahl von Zukunftsszenarien berechnet. Es wird also eine Risikoaggregation durchgeführt, die im nachfolgenden Abschnitt näher erläutert wird. Nur mit einer solchen Risikoaggregation ist die Berechnung der oben erwähnten Gefährdungswahrscheinlichkeit möglich. Um diese zu bestimmen, ist nämlich zu ermitteln, welcher Anteil der risikobedingt möglichen Zukunftsszenarien zu einer kritischen Verschlechterung des Ratings führt (also z. B. zu einer Insolvenzwahrscheinlichkeit p>10 %).
Mit der Risikoaggregation wird zudem auch eine Verbesserung der Schätzung der Insolvenzwahrscheinlichkeit p erreicht, weil man in Formel 1 nun Plan-Werte der beiden Kennzahlen, ROCE und EKQ, verwenden kann, die bestehende Chancen und Gefahren (Risiken) adäquat berücksichtigen. Bei einem häufig erkennbaren „Gefahrenübergang“ sind nämlich die für die Schätzung der Insolvenzwahrscheinlichkeit besonders geeigneten „erwartungstreuen“ Plan-Zahlen niedriger als die Plan-Werte, die ohne Beachtung von Risiken berechnet wurden (erwartungstreue Plan-Zahlen sind solche, die „im Mittel“ unter Beachtung von Chancen und Gefahren realisierbar sind). Die somit für eine möglichst präzise Abschätzung von Insolvenz- und Gefährdungswahrscheinlichkeit sinnvollen Techniken von Risikoanalyse und Risikoaggregation, die Kernelemente des Krisenfrüherkennungssystems sind, werden daher im nächsten Abschnitt noch ausführlicher erläutert.