Dipl.-Finw. (FH) Wilfried Mannek
Rz. 16
In der Praxis wird die Höhe des Kapitalisierungsfaktors kritisiert. Die Kritik hat sich verstärkt, nachdem der Basiszins im Jahr 2015 auf 0,99 % gesunken ist und sich dementsprechend ein Kapitalisierungsfaktor von über 18 ergibt. Überwiegend wurde vorgetragen und vermutet, dass eine Kapitalisierung mit den vorgesehenen Kapitalisierungsfaktoren des § 203 BewG tendenziell zu überhöhten Bewertungsergebnissen führen könnte.
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens ein Wahlrecht des Steuerzahlers ist. In rund 95 % aller Fälle wählen die Steuerzahler das vereinfachte Ertragswertverfahren. Ursächlich für die häufige Wahl des vereinfachten Ertragswertverfahrens sei – so wird i.A. vorgetragen – die Möglichkeit der vollständigen Steuerbefreiung, wodurch die Höhe der Bemessungsgrundlage faktisch in den Hintergrund tritt. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass das nicht unerhebliche Risiko der Nachversteuerung auf denselben – überhöhten – Wert bezieht.
Rz. 17
Soweit sich die Kritik ausschließlich auf die Höhe des Kapitalisierungsfaktors bezieht, erscheint diese nur dann plausibel, wenn gleichzeitig unterstellt wird, dass bei anderen Verfahren zur Unternehmensbewertung die übrigen Faktoren zur Ermittlung des gemeinen Werts des Betriebsvermögens mit dem Ertrag des vereinfachten Ertragswertverfahrens identisch sind. Ob diese Annahme zutrifft, kann durchaus bezweifelt werden. Die Unterschiedlichkeit der übrigen Faktoren zur Ermittlung des gemeinen Werts basiert bereits auf der Tatsache, dass die zukünftig nachhaltig erzielbaren Jahreserträge im vereinfachten Ertragswertverfahren vergangenheitsorientiert, bei anderen Unternehmensbewertungen dagegen zukunftsorientiert ermittelt werden. Lässt man diese Unterschiedlichkeit beiseite, wären weitere Aspekte in die Kritik einzubeziehen. Dies betrifft beispielsweise den Beta-Faktor, der im vereinfachten Ertragswertverfahren typisierend mit 1,0 angesetzt wird.
Rz. 18
Ob die Bewertungsergebnisse des vereinfachten Ertragswertverfahrens in einer akzeptablen Bandbreite des gesuchten gemeinen Werts liegen, kann m.E. lediglich durch entsprechende empirische Untersuchungen nachgewiesen werden. Belastbare Untersuchungen liegen derzeit nicht vor. Es dürfte auch nicht ohne weiteres möglich sein, eine statistisch belastbare Stichprobe zu bilden, aus der sich hinreichend aussagekräftige Untersuchungsergebnisse ableiten lassen.
Rz. 19
In einzelnen nicht öffentlichen Fällen der Praxis der Finanzverwaltung ist im Durchschnitt eine nur relativ geringe Abweichung gegenüber einer Unternehmensbewertung nach allgemeinen Bewertungsmethoden festgestellt worden. Die Abweichung der Bewertungsergebnisse des vereinfachten Ertragswertverfahrens vom Unternehmenswert nach einer allgemeinen Bewertungsmethode betrug in beispielhaft untersuchten Fällen lediglich rund 5 bis 10 %. Eine derartig geringe Abweichung spricht dafür, dass die Ergebnisse des vereinfachten Ertragswertverfahrens innerhalb einer akzeptablen Bandbreite um den gemeinen Wert liegen.
Rz. 20
Von einer derart geringen Abweichung wird man in der Praxis nicht allgemein ausgehen können. Die Praxiserfahrungen zeigen auch gravierende Abweichungen des vereinfachten Ertragswertverfahrens von tatsächlich gezahlten Kaufpreisen. Dabei wurden Überbewertungen ebenso beobachtet wie Unterbewertungen. Das allein ist jedoch kein Qualitätsindiz für die grundsätzliche Konzeption des vereinfachten Ertragswertverfahrens. Ursächlich hierfür ist im Wesentlichen die fehlende Differenzierung des Risikos der verschiedenen Branchen. Denn bei der Bestimmung des Kapitalisierungsfaktors nach § 203 BewG ist nicht nur die Höhe des Basiszinssatzes ausschlaggebend. Vielmehr führt die bislang nach § 203 Abs. 1 BewG erforderliche Unterstellung eines einheitlichen pauschalen Zuschlags von 4,5 % dazu, dass die Bandbreite der Bewertungsergebnisse des vereinfachten Ertragswertverfahrens in Einzelfällen außerhalb eines akzeptablen Toleranzbereichs liegt. Dies wird sich für Bewertungsstichtage nach dem 31.12.2015 verstärken, weil die bis dahin erfolgte jährliche Anpassung an den Basiszins weggefallen ist und der Faktor auch in dieser Hinsicht erstarrt. In der Praxis muss der Steuerpflichtige oder die Finanzverwaltung entscheiden, ob der im vereinfachten Ertragswertverfahren ermittelte Wert angesetzt werden darf, weil er nicht offensichtlich unzutreffend ist (§ 199 BewG).