Hans-Werner Högl, Friedemann Kirschstein
I. Steuerpflichtiger Erwerb (Abs. 1 Satz 1)
1. Bereicherung
Rz. 3
Die Erbschaftsteuer wird erhoben, um den Zuwachs an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu erfassen. Dies ist der Fall, wenn dem Empfänger ein in Geld messbarer Vermögensvorteil (so § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG) zufließt. Hat z.B. ein Nacherbe selbst durch Baumaßnahmen auf einem nachlasszugehörigen Grundstück zu Lebzeiten des Vorerben in Erwartung der Nacherbfolge eine Wertsteigerung des Grundstücks geschaffen, so ist dieser Betrag nicht als Bereicherung zu erfassen (s. auch H E 7 Abs. 3 (5) ErbStH 2019) für den Fall der schenkweisen Übertragung eines bebauten Grundstücks nach Errichtung eines Gebäudes durch den Beschenkten).
Zum Ausgleich der von ihm bewirkten Werterhöhung ist der vom Lagefinanzamt festgestellte Grundbesitzwert in dem Umfang herabzusetzen, wie die Baumaßnahmen den Grundstückswert beeinflusst haben.
Maßgeblicher Zeitpunkt ist der nach § 9 ErbStG sich ergebende Stichtag. Um diesen zu ermitteln, müssen alle Vor- und Nachteile auf der Empfängerebene saldiert werden (sog. objektives Nettoprinzip). Vermögensminderungen nach diesem Stichtag bleiben unberücksichtigt, selbst wenn bei der Verwertung des Nachlasses der Erwerber Verluste erlitt, die der Erwerber nicht verhindern konnte.
Rz. 4
Die daraus resultierende Bereicherung, wobei die §§ 812 ff. BGB nicht gelten, ist klar zu trennen von der Bereicherung, die nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG Voraussetzung für die Besteuerung von freigebigen Zuwendungen ist. Diese wird nach bürgerlich-rechtlichen Gesichtspunkten entschieden (s. § 7 ErbStG Rz. 12). Erst wenn sich eine solche ergibt und die weiteren Voraussetzungen der freigebigen Zuwendung vorliegen, wird die Bereicherung nach § 10 Abs. 1 ErbStG ermittelt.
2. Positiver steuerpflichtiger Erwerb
Rz. 5
Als Erwerb gilt nur ein positiver Erwerb. Jede aus einem steuerpflichtigen Vorgang resultierende Bereicherung bildet einen steuerpflichtigen Erwerb. Alle aus demselben steuerpflichtigen Vorgang stammenden, zeitgleich an den Erwerber gelangenden Erwerbe gelten als ein steuerpflichtiger Erwerb bzw. einzelner Steuerfall (so § 22 ErbStG), sog. Gesamterwerb. Die Steuersatztabelle des § 19 Abs. 1 ErbStG enthält somit auch einen sog. Vollmengenstaffeltarif, der den gesamten steuerpflichtigen Erwerb in vollem Umfang mit dem seiner Wertstufe als Obergrenze entsprechenden Steuersatz erfasst (s. § 19 ErbStG Rz. 1).
Rz. 6
Negative Erwerbe bleiben unberücksichtigt (s. auch § 14 Abs. 1 Satz 5 ErbStG, s.a. § 14 ErbStG Rz. 79 ff.), es sei denn Vermögensgegenstände mit negativem Wert und solche mit positivem Steuerwert werden durch einheitlichen Schenkungsvertrag zugewendet. Die Werte sind dann auszugleichen. Steht einem Alleinerben auch ein Vorausvermächtnis zu, darf ein positiver Erwerb aus dem Vermächtnis bei der Ermittlung der Erbschaftsteuer nicht mit einem negativen Erwerb aus dem Erbanfall saldiert werden.
Es empfiehlt sich im Einzelfall, solche Zuwendungen zu einem einzigen steuerpflichtigen Erwerb zusammenzufassen, weil ansonsten das Verrechnungspotential einer negativen Zuwendung verloren geht (s.a. § 14 ErbStG Rz. 81).
Beispiel:
Ist jemand zugleich Erbe oder Vermächtnisnehmer und zugleich Begünstigter aus einem Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall (Lebensversicherung, § 3 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG), so liegt ein steuerpflichtiger Erwerb vor. Ist jedoch die Entstehung des Vermächtnisanspruchs aufschiebend bedingt, so ist wegen des unterschiedlichen Erwerbszeitpunkts (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ErbStG) von zwei steuerpflichtigen Erwerben auszugehen. Lediglich die Zusammenfassung beider Erwerbe in einem einheitlichen Steuerbescheid ist dann möglich, wobei jedoch der Steuerbescheid inhaltlich genau zwischen beiden Erwerben differenzieren muss.
Schenken Eltern ihrem Kind jeweils einen hälftigen Miteigentumsanteil zeitgleich, so liegen zwei steuerpflichtige Erwerbe vor.
Kommt dem Nachlass und damit der Summe der durch den Tod eingetretenen Erwerbe (durch Erben, Vermächtnisnehmer, Auflagenbegünstigte) nach den Bewertungsmaßstäben ein negativer Ansatz zu, so steht dem der Ansatz eines positiven Erwerbs eines der Beteiligten (z.B. Vermächtnisnehmer) nicht entgegen, weil Besteuerungsgrundlage jeweils nur der Vermögensanfall an den einzelnen Erwerber, nicht aber ein bestimmter Prozentsatz des gesamten Nachlasses ist.