Rz. 351
Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG darf der nach Maßgabe des § 11 Abs. 2 Satz 2 und 4 BewG ermittelte (Unternehmens-)Wert die "Summe der gemeinen Werte der zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsgüter und sonstigen aktiven Ansätze abzüglich der zum Betriebsvermögen gehörenden Schulden und sonstigen Abzüge (Substanzwert) ... nicht (unterschreiten); die §§ 99 bis 103 (BewG) sind anzuwenden." Dieser "Substanzwert" bildet also die Bewertungsuntergrenze. Der gesetzlichen Regelung liegt die Erwägung zugrunde, dass bei ertragsschwachen Unternehmen oder sogar negativem Ertragswert zumindest die Einzelveräußerungspreise der zum Betriebsvermögen rechnenden Wirtschaftsgüter erzielt werden können.
Rz. 352
Der Substanzwert ist nach (zutreffender) Auffassung der Finanzverwaltung und der h.M. in der Literatur nur dann anzusetzen, wenn der gemeine (Unternehmens-)Wert nach einer der in § 11 Abs. 2 Satz 2 und 4 BewG genannten Methoden, d.h. "unter Berücksichtigung der Ertragsaussichten ... oder einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke üblichen Methode" oder im "vereinfachten Ertragswertverfahren" i.S.d. §§ 199 bis 203 BewG ermittelt wurde. Nach einer – soweit ersichtlich – nur vereinzelt vertretenen Ansicht soll der Substanzwert als Mindestwert einzig in den Fällen der Wertermittlung nach einer der in § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG angesprochenen Methoden eine Rolle spielen, nicht dagegen im Anwendungsbereich des vereinfachten Ertragswertverfahrens nach den §§ 199 bis 203 BewG.
Dem ist mit der ganz h.M. in der Literatur und der Auffassung der Finanzverwaltung (siehe oben) nicht zu folgen. Inhaltlich einleuchtende Gründe für eine dahingehende unterschiedliche Handhabung beim vereinfachten Ertragswertverfahrens einerseits und den unter § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG einzuordnenden, mit dem vereinfachten Ertragswertverfahren nach den §§199 ff. BewG zum Teil mehr oder minder eng verwandten, ebenfalls auf dem Modell der "ewigen Rente" beruhenden Ertragswertverfahren andererseits sind nicht erkennbar.
Die Mindestbewertung nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG greift dann nicht ein, wenn der gemeine (Unternehmens-)Wert aus zeitnahen Verkäufen unter fremden Dritten abgeleitet wurde. Hier wird unterstellt, dass die tatsächlich erzielten Kaufpreise den gemeinen Wert abbilden und die Kaufvertragsparteien den Substanzwert als Mindestkaufpreis bereits bei der Preisbestimmung in den Blick genommen haben. Ebenso wenig greift die Mindestbewertung nach einhelliger Auffassung ein, wenn der Bewertung der Börsenkurs zugrunde gelegt wurde.
Rz. 353
Aus § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG lässt sich nicht unmittelbar erschließen, ob bei der Bestimmung der im Rahmen der Substanzwertermittlung anzusetzenden (gemeinen) Einzelwerte von den "Fortführungswerten" ("going-concern-Annahme", "Rekonstruktionswerte", Wiederbeschaffungswerte) oder den Liquidationswerten ("Zerschlagungswerten") auszugehen ist. M.E. zutreffend wird in der Gesetzesbegründung darauf hingewiesen, dass die Liquidationswerte (Zerschlagungswerte) nur dann maßgebend sind, wenn davon auszugehen ist, dass der Erwerber das Unternehmen nicht weiter betreiben wird. Das wird bei dem Erwerb kompletter Organisationseinheiten (z.B. ganzer Betriebe, Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile) nur ausnahmsweise der Fall sein.
Rz. 354
Kommt es danach – wie in aller Regel – nach ganz h.M. auf die sog. Fortführungswerte an, so stellt sich die weitere Frage, ob die Voll- oder die Teilreproduktionswerte (-wiederbeschaffungswerte) maßgebend sind. Im erstgenannten Fall wären auch sämtliche nicht in der (Steuer-)Bilanz erscheinenden Wirtschaftsgüter und sonstigen aktiven und passiven Positionen, insb. die sog. originären immateriellen Wirtschaftsgüter, in die (Mindest-)Bewertung einzubeziehen. Nach m.E. zutreffender Ansicht der Finanzverwaltung ist dies zu bejahen. Nach R B 11.5 . Abs. 2 ErbStR 2019 sind in den Substanzwert alle Wirtschaftsgüter einzubeziehen, die nach den §§ 95 bis 97 BewG zum Betriebsvermögen gehören. Bestand und Umfang des Betriebsvermögens von Einzelunternehmen, Personenvereinigungen und Vermögensmassen richten sich grundsätzlich nach den ertragsteuerrechtlichen Maßstäben (Grundsatz der Bestandsidentität; vgl. dazu schon oben, Rz. 76 ff.). Der Grundsatz der Bestandsidentität zwischen bewertungsrechtlichem und ertragsteuerrechtlichem Betriebsvermögen wird allerdings in einer Reihe von Sachverhalten durchbrochen, so namentlich insbesondere bei den selbstgeschaffenen immateriellen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (z.B. selbst geschaffene Patente, Warenzeichen, Markenrechte, Konzessionen, Bierlieferungsrechte, Kundenstamm, Know-how sowie sonstige firmenwert-, geschäftswert- und praxiswertbildende Faktoren, denen ein eigenständiger Wert zukommt), beim Ansatz von Gewinnansprüchen gegen eine beherrschte Gesellschaft als sonstiger Abzugsposten bei der beherrschten Gesellschaft ...