1. Besteuerung des Vorerben
Rz. 30
Nach § 6 Abs. 1 ErbStG gilt der Vorerbe als Erbe und erwirbt den Nachlass durch Erbanfall (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG). Diese Aussage ist aus Sicht des bürgerlichen Rechts selbstverständlich, denn der Vorerbe ist Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers. Sie lässt sich nur dadurch erklären, dass die Erbschaftsteuergesetze vor 1925 den nicht befreiten Vorerben als Nießbraucher behandelten.
Rz. 31
Aber die Bedeutung der in Gestalt einer Fiktion formulierten Steuerpflicht des Vorerben geht weiter. Sie führt dazu, dass er als Vollerbe besteuert wird. Das ergibt sich bereits aus § 6 Abs. 1 ErbStG und wird in den Absätzen 2 und 3 des § 6 ErbStG bestätigt. Denn § 6 Abs. 2 ErbStG macht den Vorerben zum Erblasser für den der Nacherbschaft unterliegenden Erbfall, wenn der Nacherbfall durch den Tod des Vorerben eintritt. Das wäre nicht möglich, wenn der Tod des Vorerben als auflösende Befristung die in den §§ 5 und 8 BewG vorgesehenen Konsequenzen hätte. § 6 Abs. 3 ErbStG macht den Vorerben zwar zum auflösend bedingten Erben, wenn der Nacherbfall durch ein anderes Ereignis eintritt. Aber das hat nicht die Konsequenz, die man nach den §§ 5 und 8 BewG erwarten würde, also eine Berichtigung der Steuerfestsetzung gegen den Vorerben. Sie bleibt unverändert bestehen.
Rz. 32
Dass die erbrechtlichen Beschränkungen, die den Vorerben treffen, bei der Besteuerung nicht berücksichtigt werden, hat die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Regelung aufgeworfen, jedenfalls soweit der nicht befreite Vorerbe betroffen ist. Der BFH hat wiederholt entschieden, dass diese Besteuerung des Vorerben verfassungsgemäß ist. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen. Denn die Beschränkungen, die den Vorerben treffen, belasten ihn persönlich und nicht den Nachlass, mag es sich nach der zivilrechtlichen Konstruktion der Sache auch um dinglich wirkende Verfügungsbeschränkungen handeln. Im Nacherbfall fallen sie weg.
Rz. 33
Dass der Nacherbe im Vergleich mit einem Vollerben in bestimmten Fällen höher belastet wird, macht die Besteuerung auch nicht gleichheitswidrig. Denn das steuerliche Ergebnis ist Folge einer Entscheidung des Erblassers, der seine Wahlfreiheit zwischen Vollerbfolge und Nacherbfolge im Sinne einer Nacherbfolge ausgeübt und die damit vorgezeichnete steuerliche Mehrbelastung seines Erben in Kauf genommen hat. Er kann sie vermeiden, indem er den Nacherben sogleich zum Vollerben einsetzt und für den Vorerben auf eine Weise sorgt, die der Vorerbschaft im wirtschaftlichen Ergebnis gleichwertig ist. Denn für die gleichheitsrechtliche Abwägung fällt ins Gewicht, inwieweit dem Steuerpflichtigen – oder in Erbsachen dem Erblasser – die Möglichkeit eröffnet ist, zwischen verschiedenen Belastungsalternativen zu wählen. Es geht daher um eine verhaltensbezogene Unterscheidung von Steuerfolgen, der die Betroffenen ohne Weiteres Rechnung tragen können.
Rz. 34
Erwirbt der Vorerbe als Erbe durch Erbanfall, ist er Steuerschuldner nach § 20 Abs. 1 ErbStG. Diese Feststellung wird ergänzt durch die Aussage des § 20 Abs. 4 ErbStG, dass der Vorerbe die Erbschaftsteuer, die er als Steuerschuldner zu entrichten hat, zulasten des Nacherben aus den Mitteln der Vorerbschaft entnehmen kann. Das versteht sich als Ergänzung zu § 2126 BGB. Denn die persönliche Steuer des Vorerben gehört aus zivilrechtlicher Sicht an sich nicht zu den Nachlassverbindlichkeiten. Man könnte deshalb bezweifeln, ob die Erbschaftsteuer des Vorerben zu den außerordentlichen, auf den Stammwert der Nachlassgegenstände gelegten Lasten zu rechnen ist, die der Vorerbe nach § 2126 BGB auf den Nacherben verlagern kann.
Rz. 35
Wegen dieser Unsicherheit der zivilrechtlichen Rechtslage stellt § 20 Abs. 4 ErbStG ausdrücklich klar, dass aus steuerlicher Sicht die Erbschaftsteuer des Vorerben den Nachlass belasten soll, so dass im wirtschaftlichen Ergebnis nicht den Vorerben, sondern den Nacherben die durch den Vorerbfall ausgelöste Steuer trifft.
Rz. 36
Der Vorerbe darf also die Erbschaftsteuer aus dem Nachlass bezahlen und, wenn er sein eigenes Vermögen bemüht hat, schuldet ihm der Nacherbe Ersatz (§ 2124 Abs. 2 Satz 2 BGB). Hat der Vorerbe die Steuer bis zu seinem Tod nicht bezahlt, geht sie als Nachlassverbindlichkeit (§ 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG) auf seinen Erben über. Aber sein Erbe erbt nicht nur die Erbschaftsteuerschuld, sondern auch den Ersatzanspruch des Vorerben gegen den Nacherben. Mit dem Eintritt des Falles der Nacherbfolge hört der Vorerbe nach § 2139 BGB auf, Erbe zu sein, und fällt die Erbschaft dem Nacherben an. Der Nacherbe ist Erbe des ursprünglichen Erblassers. Er haftet nach § 1967 Abs. 1 und 2 BGB für die Nachlassverbindlichkeiten, und zwar auch für die Verbindlichkeiten, die nicht vom Erblasser herrühren, sondern als Erbfallschulden den Erben als solchen treffen, soweit der Erblasser nicht ausnahmsweise ausschließlich den Vorerben mit Vermächtnissen oder Auflagen belasten wollte.