Rz. 343
Die Intention des historischen Gesetzgebers lässt sich anhand der zugänglichen Materialien leider nicht ermitteln. Dass eine Gesetzeslücke geschlossen werden sollte, ist weder der Gesetzesbegründung noch den späteren Erörterungen im Finanzausschuss explizit zu entnehmen und daher nicht mehr als eine bloße Vermutung. Der Gesetzentwurf verweist zur "sachlichen Berechtigung" nur auf die Erläuterungen zu § 3 Abs. 2 Nr. 5 ErbStG, wonach diese Norm jedoch der nachträglichen Legalisierung einer früheren RFH-Rechtsprechung diente. Solche Zwecke verfolgte der Gesetzgeber mit § 7 Abs. 1 Nr. 10 ErbStG sicherlich nicht.
Rz. 344
Lediglich zum Zeitpunkt der Steuerentstehung wird man mittelbar fündig. Für die ausdrücklich als Parallelvorschrift bezeichnete Norm des § 3 Abs. 2 Nr. 5 ErbStG schuf der Gesetzgeber mit § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g ErbStG eine spezielle Regelung. Nichts spricht dagegen, § 1 Abs. 2 ErbStG sogar dafür, diese Vorschrift in einschlägigen Fällen entsprechend und vorrangig vor § 9 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG anzuwenden (s. auch Rz. 221, 249, 287 u. 309). Der Steueranspruch entsteht daher mit Abschluss der, ggf. konkludent zustande kommenden, Abfindungsvereinbarung. Erhält der Bedachte allerdings wiederum nur künftig erfüllbare Ansprüche, ist an § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a ErbStG zu denken (s. Rz. 341).
Rz. 345
In wenigen Gerichtsentscheidungen wird § 7 Abs. 1 Nr. 10 ErbStG, umkehrschließend, lediglich als gesetzlicher Beleg dafür zitiert, dass der Erwerb noch nicht erfüllbarer Leistungsansprüche noch keine steuerbare Bereicherung des Begünstigten bewirkt. Insbesondere gilt dies für sog. Anwartschaftsrechte und erst recht für künftige Erwerbsaussichten oder bloße Erwerbschancen (s. auch Rz. 21). Konsequent ist der Verzicht auf solche unvollständigen Rechtspositionen, ebenso wie ihre Abtretung, auch (noch) keine bereicherungsmindernde Gegenleistung (§ 7 Abs. 3 ErbStG; s. auch Rz. 404, 407 ff.). In der Praxis jedoch läuft die Vorschrift seit nunmehr fast 50 Jahren ins Leere; bislang wurden keine Präzedenzfälle publik, in denen es tatsächlich zu einer Besteuerung kam. Damit droht ihr allmählich ein ähnliches Schicksal wie der bald 100 Jahre schlummernden Norm des § 7 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG (s. Rz. 247).
Rz. 346
Als Schenkung gilt die vorzeitig gewährte "Abfindung für aufschiebend bedingt, betagt oder befristet erworbene Ansprüche". Ausdrücklich ausgenommen sind Fälle, die nach der gleichzeitig kodifizierten Norm des § 3 Abs. 2 Nr. 5 ErbStG der Erbschaftsteuer unterliegen. Seinem Wortlaut nach erfasst der Fiktionstatbestand den entgeltlichen Erlass, vielleicht auch die Veräußerung solcher Forderungen. Nicht subsummierbar sind daher der abfindungslose Verzicht auf derartige Ansprüche oder deren unentgeltliche Abtretung an den Schenker. Nicht tatbestandsmäßig sind ebenso Gegenleistungen für die Aufgabe/Übertragung unbedingter (unbetagter/unbefristeter) Ansprüche. Konsequent scheitert somit die Ausdehnung der Norm auf offene, wirksam begründete Schenkungsforderungen (§ 518 Abs. 1 BGB).
Rz. 347
§ 7 Abs. 1 Nr. 10 ErbStG birgt ein beachtliches Steuerpotenzial (s. Rz. 352 ff.), das zu heben Aufgabe der Schenkungsteuerstellen ist (§ 85 Satz 1 AO). Von Anfang an hatte die Finanzverwaltung jedoch daran kein besonderes Interesse; noch immer fehlen konkrete Anwendungsweisungen. Auch die potenziellen Steuerpflichtigen warten damit auf die nötige Orientierung, die eine offizielle Interpretation bieten würde. Allein der Blick in die – spekulative – Kommentarliteratur ist wenig hilfreich und zeigt allenfalls, dass keine Rechtssicherheit existiert (zur Anzeigepflicht der Notare s. § 34 ErbStG Rz. 11).
Rz. 348
§ 7 Abs. 1 Nr. 10 ErbStG setzt die Schenkungsteuerbarkeit des nicht ausgeführten Erwerbsvorgangs nicht voraus. Dies wird zwar vielfach behauptet, jedoch, wenn überhaupt, nur durch wechselseitige Bezugnahme belegt. Weder der Text der Norm noch die zugänglichen Gesetzesmaterialien rechtfertigen den Schluss auf ein solches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.
Rz. 349
Besteuerungsverhältnis: Der BFH dürfte der Meinung Gebels inzwischen wohl nicht mehr zustimmen, im Falle einer Abfindungsbesteuerung sei stets das Verhältnis des Erwerbers zum Schuldner des ursprünglichen Anspruchs maßgebend. Gesetzeskonform kommt es entscheidend darauf an, aus wessen Vermögen die Gegenleistung stammt. Das kann der einstige Schenker nur dann sein, wenn er tatsächlich die Abfindung leistet (s. auch Rz. 356). – Unbenommen bleibt natürlich eine anderweitige Regelung im ErbStG.
Rz. 350
Ebenso wie § 7 Abs. 1 Nr. 2 – Nr. 9 ErbStG wurde auch § 7 Abs. 1 Nr. 10 ErbStG als Spezialvorschrift mit Anwendungsvorrang vor § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG konzipiert (s. Rz. 2; speziell zu § 7 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG s. Rz. 221, 228), die selbstständig eine steuerbare Schenkung iSd § 1 A...