Rz. 19
Der Begriff des Teilwerts hat sich aus dem früher entstandenen Begriff des gemeinen Werts entwickelt, der sich wiederum bis in das allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) zurückverfolgen lässt. § 112 ALR verstand unter dem "gemeinen Werth" den "Nutzen, welchen die Sache einem jeden Besitzer gewähren kann", mit anderen Worten einen Wert, der von persönlichen Umständen absieht, d.h. einen "intersubjektiven Gebrauchswert". Im Verlaufe der historischen Entwicklung vollzog sich sodann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Wandel im Verständnis des gemeinen Werts vom Gebrauchs- oder Nutzungswert ("Ertragswert") hin zum Tauschwert bzw. Verkaufswert. So setzte das Reichsgericht bereits im Jahre 1879 den gemeinen Wert für den Regelfall mit dem Verkaufswert gleich: Den gemeinen Wert einer Sache bilde, so führte das Reichsgericht aus, nach § 112 Abs. 1 Satz 2 ALR der Nutzen, welchen sie einem jeden Besitzer gewähren könne. Er entspreche regelmäßig dem Kaufpreis, welcher dafür im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach ihrer objektiven Beschaffenheit ohne Rücksicht auf ungewöhnliche oder lediglich persönliche Verhältnisse, also eben von jedermann zu erzielen sei. Diese Umschreibung des gemeinen Werts als eines Einzelveräußerungspreises blieb bis in die jüngere Zeit auch für das Steuerrecht maßgeblich. Zum heutigen Verständnis des gemeinen Werts vgl. aber unten, Rz. 63 f.
Rz. 20
Schon frühzeitig wurde erkannt, dass der so verstandene gemeine Wert als Maßstab für die Bewertung von Wirtschaftsgütern (Vermögensgegenständen), die Teil eines auf Fortführung gerichteten Betriebes, also einer "lebenden", intakten Organisations- und Leistungseinheit sind, nur unvollkommen geeignet war. So hatte bereits 1873 das Reichsoberhandelsgericht (ROHG) die Bedeutung der Beziehung der zu bewertenden Wirtschaftsgüter zum Betrieb (deren Betriebsbezogenheit) für deren Bewertung in der Handelsbilanz hervorgehoben. In der Handelsbilanz müsse, so das ROHG, davon ausgegangen werden, dass "nicht die Liquidation des Geschäfts, sondern dessen Fortführung beabsichtigt ist". Das Preußische OVG knüpfte für das Steuerrecht an diese Rechtsprechung des ROHG an. Schon 1897 betonte es die Maßgeblichkeit des Wertes, den die zu bewertenden Wirtschaftsgüter "bei fortgesetztem Betriebe" haben.
Rz. 21
Offensichtlich beeinflusst durch die genannten Entscheidungen des ROHG und des Preußischen OVG traten im Schrifttum vor allem Mirre und Fuisting für eine betriebsbezogene Bewertung der Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens unter Beachtung des Fortführungsgedankens ein. Mirre forderte im Jahre 1913, dass bei der Bewertung des Betriebsvermögens nicht der gemeine Wert der einzelnen Sache, sondern "ihre Bedeutung für die ganze Einheit, zu der sie gehört ...", maßgeblich sein müsse. In diesem Zusammenhang prägte Mirre zum Zwecke der auch äußeren Unterscheidung zwischen – isoliertem – Einzelveräußerungspreis (= gemeiner Wert) und betriebsbezogenem (Fortführungs-)Wert den Begriff des Teilwerts, der sodann aber erst über 20 Jahre später vom Gesetzgeber des RBewG 1934 und des EStG 1934 rezipiert werden sollte (vgl. unten Rz. 25), der Sache nach jedoch bereits in der RAO 1919 seinen gesetzlichen Niederschlag fand, wenngleich dort terminologisch noch nicht zwischen "gemeinem Wert" und "Teilwert" unterschieden wurde (vgl. Rz. 22).
Fuisting führte im Jahre 1915 aus, der Bilanz liege "die Idee einer fingierten augenblicklichen Realisierung durch Veräußerung des Geschäfts im ganzen an einen dessen Fortführung beabsichtigenden Erwerber zugrunde".
Rz. 22
Seinen gesetzlichen Niederschlag fand der "Fortführungsgedanke" (das heute sog. Prinzip des "going concern") erstmals in § 139 Abs. 1 AO 1919, wo es hieß:
"Bei der Bewertung von Vermögen, das einem Unternehmen gewidmet ist, wird in der Regel von der Voraussetzung ausgegangen, daß das Unternehmen bei der Veräußerung nicht aufgelöst, sondern weitergeführt wird."
Die AO 1919 verwendete indessen den Begriff des Teilwerts als eigenständigen, vom gemeinen Wert zu unterscheidenden Terminus noch nicht. In den §§ 137 bis 139 AO 1919 ist ausschließlich vom gemeinen Wert die Rede.
Rz. 23
Entsprechendes galt auch noch für das RBewG 1925. Nach § 31 RBewG 1925 fanden für die Bewertung der Gegenstände des Betriebes die Vorschriften der RAO Anwendung, also namentlich die §§ 137 Abs. 1 und 138 AO 1919, die die Maßgeblichkeit des gemeinen Werts anordneten. Nach § 31 Abs. 2 RBewG 1925 war dabei "dem Gesichtspunkt der Gesamtbewertung gemäß § 137 Abs. 2, § 139 Abs. 1 RAO bei der Ermittlung des gemeinen Werts der einzelnen Gegenstände in der Weise Rechnung zu tragen, dass diese mit dem Wert angesetzt werden, den sie unter der Voraussetzung der Fortführung des Betriebes für den Betrieb haben".
Rz. 24
Auch das RBewG 1931 kannte den Begriff des Teilwerts als gegenüber dem gemeinen Wert eigenständigen Bewertungsmaßstab noch nicht...