Dipl.-Finw. (FH) Wilfried Mannek
1. Keine Höherbewertung nach § 198 BewG
Rz. 54
Unsicherheiten können sich ergeben, wenn für das zu bewertende Grundstück ein stichtagsnaher hoher Kaufpreis bekannt ist, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr erzielt worden ist. Sofern der Kaufpreis höher ist als der Wert, der sich im Ertragswertverfahren oder Sachwertverfahren ergibt, wäre es im Rahmen des § 198 BewG unzulässig, wenn das Finanzamt den höheren Kaufpreis als Grundbesitzwert feststellen würde. Denn das Finanzamt ist vorrangig an die Regelungen des Bewertungsgesetzes gebunden.
Rz. 54.1
Die Möglichkeit des Nachweises des niedrigeren gemeinen Werts kann – auch wenn für das zu bewertende Objekt ein im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zustande gekommener Kaufpreis vorliegt – nur vom Steuerpflichtigen genutzt werden. Allerdings stellt sich – zumindest im Vergleichswertverfahren – die Frage, ob der tatsächlich für das zu bewertende Grundstück erzielte Kaufpreis als Vergleichswert nach § 183 BewG angesetzt werden darf.
Rz. 54.2
In der Praxis musste schon bisher damit gerechnet werden, dass die Finanzverwaltung als Vergleichspreis den Kaufpreis für das zu bewertende Objekt ansetzt, der in der Nähe des Bewertungsstichtags – beispielsweise innerhalb eines Jahres vor dem Bewertungsstichtag – im gewöhnlichen Geschäftsverkehr unter fremden Dritten erzielt worden ist. Eine Zurückhaltung der Finanzverwaltung dürfte allenfalls zu erwarten sein, wenn die Eignung eines einzelnen Kaufpreises als Vergleichspreis fraglich erscheint. Diese Auffassung ist mittlerweile durch H B 183 Abs. 2 ErbStH bestätigt worden.
2. Anzahl der Vergleichsfälle
Rz. 54.3
Im Allgemeinen wird ein Vergleichspreis nur dann vorliegen, wenn er aus einem Durchschnitt einer hinreichend großen Anzahl von Vergleichsobjekten abgeleitet worden ist. Zwar ließ die Finanzverwaltung bereits mit Abschn. 12 Abs. 2 Satz 3 GV-Erlass vom 5.5.2009 zu, dass ausnahmsweise auch ein einzelner Vergleichspreis genügt, um das Vergleichswertverfahren anzuwenden. Wenn es schon zulässig war, den Vergleichswert aus dem Kaufpreis eines einzelnen (Vergleichs-)Grundstücks abzuleiten, muss dies erst recht zulässig sein, wenn für das konkret zu bewertende Grundstück ein Kaufpreis in Stichtagsnähe vorliegt. Diese Auffassung ist mittlerweile durch H B 183 Abs. 2 ErbStH bestätigt worden.
Rz. 54.4
Hieraus müsste m.E. ein für den Steuerpflichtigen nachteiliger Reflex bei einem höheren Kaufpreis entstehen, sofern das Bewertungsobjekt wegen der zu Grunde liegenden Grundstücksart im Vergleichsverfahren zu bewerten ist. Denkbar wäre dies somit für die Grundstücke, die nach § 182 BewG im Vergleichswertverfahren bewertet werden können; das ist grundsätzlich bei den Grundstücken der Fall, die zu den Grundstücksarten Wohnungseigentum, Teileigentum oder Ein- und Zweifamilienhäuser gehören.
3. Stichtagsnähe
Rz. 54.5
In der Praxis dürften wegen des Stichtagsprinzips regelmäßig nur solche Verkaufspreise herangezogen werden, die vor dem Bewertungsstichtag erzielt worden sind. Die Finanzverwaltung kann sich zwar zu Gunsten des Steuerzahlers über das Stichtagsprinzip hinwegsetzen, indem sie auch Kaufpreise zum Nachweis des niedrigeren gemeinen Werts anerkennt, die nach dem Bewertungsstichtag realisiert worden sind. Umgekehrt kann dies jedenfalls nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen gelten.
Rz. 54.6
Die vorstehende Problematik war von der Finanzverwaltung bislang nicht ausdrücklich geklärt worden. Letztlich richtet sich die Entscheidung, ob ein (höherer) Kaufpreis bei der Feststellung des Grundbesitzwerts durch das Finanzamt berücksichtigt werden darf, nicht nach § 198 BewG, sondern nach § 183 BewG. Dementsprechend hat sich die Finanzverwaltung mit H B 183 Abs. 2 ErbStH festgelegt.
4. Vorrang von Vergleichspreisen
Rz. 54.7
In diesem Zusammenhang ist jedoch der Vorrang der von den Gutachterausschüssen i.S.d. §§ 192 ff BauGB mitgeteilten Vergleichspreise zu beachten (vgl. § 183 Abs. 1 Satz 2 BewG). Nach dem Urteil des BFH v. 24.8.2022 sind bei Anwendung des Vergleichswertverfahrens vorrangig die von den Gutachterausschüssen mitgeteilten Vergleichspreise heranzuziehen. Sofern keine vom Gutachterausschuss ermittelten Vergleichspreise vorliegen, kann sich der Vergleichspreis nach dem BFH-Urteil auch aus einem zeitnah zum Bewertungsstichtag vereinbarten Kaufpreis für das zu bewertende Grundstück ergeben (§ 183 Abs. 1 Satz 1 BewG).
Rz. 54.8
Bei Anwendung des Vergleichswertverfahrens sind nach § 183 Abs. 1 Satz 1 BewG Kaufpreise von Grundstücken heranzuziehen, die hinsichtlich der ihren Wert beeinflussenden...