1. Ausgangssituation
Das BMF-Schreiben vom 10.5.2022 als Vorgabe für die Verwaltung ...: Mit dem BMF-Schreiben vom 10.5.2022 (BMF v. 10.5.2022 – IV C 1-S 2256/19/10003 :001, FMNR202200938, BStBl. I 2022, 668) gibt es erstmals eine konkretisierte Verwaltungsauffassung zur steuerlichen Behandlung von virtuellen Währungen und sonstigen Token. Die Finanzämter werden sich in ihrer Veranlagungspraxis daran orientieren. Es handelt sich insoweit aktuell um den objektivierten Empfängerhorizont der Finanzverwaltung.
... und faktisch auch für Steuerpflichtige: Umgekehrt handelt es sich um den Maßstab, an dem sich der Steuerpflichtige für abzugebende Steuererklärungen zu orientieren hat, auch um steuerstrafrechtliche Risiken zu vermeiden. Eine unrichtige Steuererklärung, die zu einer zu niedrigen Steuerfestsetzung führt, erfüllt den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Eine Erklärung ist "unrichtig", wenn über steuererhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige, mithin lückenhafte Angaben gemacht wurden (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 153 AO, Rz. 11 [Oktober 2016]). Dabei erstreckt sich die den Steuerpflichtigen treffende Wahrheitspflicht (vgl. § 150 Abs. 2 S. 1 AO) nur auf Tatsachen, nicht jedoch auf rechtliche Schlussfolgerungen. Gleichwohl wird die Tatsachenbasis immer zugleich von der zugrunde gelegten Rechtsauffassung mitbestimmt (vgl. Beyer, AO-StB 2013, 286, 287). Die Steuererklärungen verlangen Zahlenangaben, die ihrerseits das Ergebnis einer steuerrechtlichen Beurteilung sind, bei der vom Steuerpflichtigen zwischen rechtlich erheblichen und rechtlich unerheblichen Tatsachen unterschieden werden muss (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Vor § 149 AO Rz. 9 [September 2022] sowie § 153 AO Rz. 11 [Oktober 2016]; Bornheim, AO-StB 2001, 28, 31; Dörn, DStZ 1993, 478, 483).
Beraterhinweis Die sachgerechte Ermittlung der Bemessungsgrundlagen stellt den Steuerpflichtigen bereits in tatsächlicher Hinsicht vor erhebliche Herausforderungen. In einem Bereich, in dem vieles noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, wird der Steuerpflichtige zudem ggf. eine von der Finanzverwaltung abweichende Rechtsauffassung vertreten. Gleichzeitig sind mit der Steuererklärung Angaben in einem solchen Umfang zu machen, dass ein Strafvorwurf von vornherein ausgeschlossen ist.
2. Umgang mit tatsächlichen Unklarheiten
Was das "Zahlenwerk" angeht, ist in der Praxis der Ermittlung von Gewinnen aus der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Einheiten einer virtuellen Währung und sonstigen Token problematisch, dass die von den Handelsplattformen bereitgestellten Daten nicht selten unvollständig oder fehlerhaft sind.
Ermittlung und Herleitung der Bemessungsgrundlagen: Eine sachgerechte Ermittlung der Bemessungsgrundlagen lässt sich in diesen Fällen nur durch individuelle, den Anforderungen des Einzelfalls entsprechende Behelfsmaßnahmen erreichen. Dies kann zum einen bedeuten, einzelne Zuflüsse (z.B. Airdrops) an virtuellen Währungen oder sonstigen Token händisch zu ergänzen, weil sie nicht in den bereitgestellten Daten enthalten sind. Bestehen indes größere Datenlücken, z.B. weil die Handelsplattform nicht mehr erreichbar ist, können diese durch ein punktuell aggregiertes Ermittlungsvorgehen geschlossen werden. So kann über die Ein- und Auszahlungen in einer Totalperiode ein Gewinn oder Verlust ermittelt werden, der unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen des Einzelfalls zur Ermittlung der steuerpflichtigen Einkünfte im jeweiligen Veranlagungszeitraum herangezogen werden kann.
Beraterhinweis In solchen Fällen ist es jedenfalls anzuraten, der Finanzbehörde nicht nur die ermittelte steuerliche Bemessungsgrundlage, sondern auch die Herleitung offenzulegen. Hierzu sind über den ermittelten Wert in Form einer Zahlenangabe hinaus Angaben zu machen, bspw. im Freitextfeld der Steuererklärung oder in einem Begleitschreiben.
Problem Datenverlust: Dass der Datenverlust ein höchst praxisrelevantes Problem darstellt, zeigen eindrücklich die Entwicklungen um die Kryptobörsen Mt.Gox, Cryptopia und zuletzt FTX. Soweit ausschließlich eine Einkunftsart vorliegt und im Einzelfall eine Abgrenzung von Veranlagungszeiträumen gelingt, mag die Ableitung eines Totalgewinns durch Gegenüberstellung der Ein- und Auszahlungen sowie der Endbestände noch als adäquates Mittel angesehen werden. Freilich lässt sich auf diesem Wege keine verlässliche Aussage zu etwaigen Haltefristen oder der Differenzierung zwischen Gewinnen und Verlusten verschiedener Einkunftsarten treffen, die auf einem Account einer Handelsplattform erzielt wurden, für welche keine Daten mehr verfügbar sind. Dies ist allenfalls nach Maßgabe einzelfallbezogener Annahmen möglich. Fraglich ist, wem solche sachverhaltsbedingten Unschärfen zu Lasten gelegt werden können. Mangels Aufzeichnungspflichten kommt eine für den Steuerpflichtigen nachteilige Schätzung u.E. grundsätzlich nur dann und insoweit in Betracht, wie ein Verstoß gegen die erweiterten Mitwirkungspflichten vorliegt (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 A...