Beanstandung von Schätzungen: Der BMF-Entwurf birgt für den Steuerpflichtigen das Risiko, dass die Finanzbehörde vorschnell einen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten annimmt und die Besteuerungsgrundlagen für Einkünfte aus § 23 EStG (oder ggf. aus § 15 EStG im Falle gewerblicher Einkünfte) gem. § 162 AO schätzt. Nicht jede Schätzung ist jedoch berechtigt und sollte unbeanstandet hingenommen werden (Grundlegend zum Umgang mit Schätzungen Höpfner / Schwindt, Schätzungen abwehren – Die richtige Strategie im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren, Sonderausgabe zu PStR 11/2019).
Schätzungsbefugnis: Eine Schätzung kann nur dann Bestand haben, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen (Schätzungsbefugnis dem Grunde nach) und bei bestehender Schätzungsbefugnis die Schätzung auch in ihrer Höhe zutreffend ist (Schätzung der Höhe nach).
Wichtig ist dabei, dass nicht jede Mitwirkungspflichtverletzung automatisch eine Schätzungsbefugnis der Finanzbehörde zur Folge hat. Voraussetzung ist nach der Generalklausel in § 162 Abs. 2 S. 1 AO stets, dass aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht das FA die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rz. 8 [Mai 2022]). Denn die Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen heben die allgemeine Pflicht zur Amtsermittlung nicht auf (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 88 AO Rz. 3 [Oktober 2017]). Dies gilt auch bei erweiterten Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten (vgl. FG München, Zwischenurteil v. 7.11.2013 – 5 K 318/12, juris). Nach der Generalklausel des § 88 Abs. 1 AO ermittelt die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen und hat dabei alle für den Einzelfall bedeutsamen, und zwar auch die für den Steuerpflichtigen günstigen Umstände, zu berücksichtigen. Beachten Sie: Die Mitwirkungspflichtverletzung muss also für die Unaufklärbarkeit der Besteuerungsgrundlagen kausal geworden sein (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rz. 6 [Mai 2022]). Dies ist dann nicht der Fall, wenn das FA die Besteuerungsgrundlagen ohne unzumutbaren Aufwand auf andere Weise zutreffend ermitteln oder berechnen kann (vgl. Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 162 AO Rz. 21 [Nov. 1997]; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rz. 32 [Mai 2022]; s. auch BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462).
Beispiel
Bedeutung kommt dem Vorstehenden insb. zu, soweit Einheiten einer virtuellen Währung oder sonstige Token über die Handelsplattform eines ausländischen Betreibers erworben oder veräußert wurden. Verletzt der Steuerpflichtige in Bezug auf daraus erzielte Veräußerungsgewinne eine unterstellte Mitwirkungspflicht, kann dies nur dann zu einer Schätzungsbefugnis des FA führen, wenn dieses die Besteuerungsgrundlagen nicht selbst ermitteln kann. Dies dürfte allerdings in vielen Fällen möglich sein. Zumindest, soweit auf dezentralen Börsen und Blockchains selbst transferiert/gehandelt wurde, stehen die Daten (auch) der Finanzverwaltung im gleichen Umfang wie dem Steuerpflichtigen zur Verfügung.
Verletzung von Buchführungspflichten: Bei im Betriebsvermögen gehandelten virtuellen Währungen und sonstigen Token kommen aus der Verletzung von formellen Buchführungspflichten abgeleitete Schätzungen in Betracht. Nach § 162 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 AO ist "insbesondere" zu schätzen, wenn die Buchführung des Steuerpflichtigen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden kann. Jedoch führt nach st. Rspr. des BFH nicht jeder formelle Mangel der Buchführung zu einer Widerlegung der Richtigkeitsvermutung aus § 158 AO und damit dazu, dass der Finanzbehörde eine Schätzungsbefugnis eröffnet ist. Hierzu berechtigen nur formelle Mängel von erheblichem Gewicht (BFH v. 7.6.2000 – III R 82/97, HFR 2001, 30; v. 25.3.2015 – X R 20/13, DStR 2015, 1739 = AO-StB 2015, 255). Die formellen Mängel müssen Anlass dazu geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln (BFH v. 25.3.2015 – X R 20/13, DStR 2015, 1739 = AO-StB 2015, 255; v. 17.11.1981 – VIII R 174/77, BStBl. II 1982, 430 m.w.N.). Beachten Sie: Im Falle des Nichtvorhandenseins oder der Unvollständigkeit einer Verfahrensdokumentation ist dies u.E. nicht der Fall (dies erkennt grds. auch das BMF an, vgl. Rz. 155 GoBD).
Nicht mehr verfügbare Daten: Ein großes Problem in der Praxis ist, dass relevante Daten häufig nicht mehr verfügbar sind. Der Steuerpflichtige kann dann insoweit nicht an der Ermittlung des steuererheblichen Sachverhalts mitwirken. Nicht immer führt dies zu einem Verstoß gegen Mitwirkungspflichten. Denn die Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen haben ihre Grenzen. Die Erfüllung der Pflichten zur Aufklärung des Sachverhaltes sowie zur Vorsorge und Beschaffung von Beweismitteln muss im Einzelfall erforderlich, möglich, zumutbar und verhältnismäßig sein (BFH v. 19.12.2007 – X B 34/07, BFH/NV 2008, 597; v. 3.6.1987 – III R 205/81, BStBl. II 1987, 675).
Beispiel:
Gedacht sei hier nur an die kürzlich bekannt gewordene Insolvenz der Kryptobörse FTX...