Leitsatz
1. Ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen sind nur dann als Heilbehandlung steuerfrei, wenn sie dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist.
2. Zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist es bei Überprüfung der Umsatzsteuerfreiheit von Heilbehandlungsleistungen erforderlich, das für richterliche Überzeugungsbildung gebotene Regelbeweismaß auf eine "größtmögliche Wahrscheinlichkeit" zu verringern. Zugleich hat der Steuerpflichtige im gesteigerten Maß den ihn nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO treffenden Mitwirkungspflichten nachzukommen. Dies erfordert detaillierte Angaben zu der mit dem jeweiligen Behandlungsfall verfolgten therapeutischen oder prophylaktischen Zielsetzung.
Normenkette
Art. 13 Teil A Buchst. b und c 6. EG-RL, § 4 Nr. 14 UStG, § 76 FGO, § 203 StGB
Sachverhalt
Die Klägerin betreibt eine Klinik, in der sie im Streitjahr 2002 durch approbierte Ärzte vorwiegend ästhetisch-chirurgische Maßnahmen wie Fettabsaugungen, Gesichts-, Hals- und Augenlid-Straffungen sowie Brustvergrößerungen, -verkleinerungen und -straffungen durchführte. Sie nahm für sich die Steuerfreiheit ihrer Leistungen in Anspruch. Das FA sah die Leistungen als steuerpflichtig an. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das FG (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.1.2012, 6 K 1917/07, Haufe-Index 2997462, EFG 2012, 1783) ging davon aus, dass es zu einer Beweiserhebung über die Steuerfreiheit der Leistungen erst verpflichtet sei, wenn die Patienten der Klägerin in die Offenbarung der zum persönlichen Lebensbereich gehörenden Behandlungsgeheimnisse einwilligen, da ansonsten eine Verletzung von § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorläge.
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil des FG auf und verwies die Sache an das FG zurück. Entgegen dem Urteil des FG kommt es für eine Beweiserhebung nicht darauf an, dass die Patienten der Klägerin in die Offenbarung von Behandlungsgeheimnisse einwilligen. Vielmehr ist eine Beweiserhebung auf der Grundlage anonymisierter Patientenunterlagen vorzunehmen.
Hinweis
1. Der BFH legt die Steuerbefreiung für die ärztliche Heilbehandlung nach § 4 Nr. 14 UStG (heute: § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG) in ständiger Rechtsprechung entsprechend Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL (Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der 6. EG-RL)aus.
2. Für den Bereich sog. Schönheitsoperationen geht der EuGH im Urteil PFC Clinic davon aus, dass eine ästhetische Operation (ästhetische Behandlung) als Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin (ärztliche Heilbehandlung) steuerfrei ist, wenn sie dazu dient, Krankheiten oder Gesundheitsstörungen zu diagnostizieren, zu behandeln oder zu heilen oder die Gesundheit zu schützen, aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Die Leistung muss dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist. Dabei kann es sich auch um gesundheitliche Probleme psychologischer Art handeln. Nicht steuerfrei sind demgegenüber Eingriffe zu rein kosmetischen Zwecken. Nicht maßgeblich ist auch die subjektive Vorstellung, die die behandelte Person von diesem Eingriff hat. Von Bedeutung ist vielmehr, dass die Leistung von einer Person erbracht wird, die zur Ausübung eines Heilberufs zugelassen ist, oder dass der Zweck des Eingriffs von einer solchen Person bestimmt wird. Die Beurteilung medizinischer Fragen muss auf medizinischen Feststellungen beruhen, die vom entsprechenden Fachpersonal zu treffen sind (EuGH, Urteil vom 21.3.2013, C 91/12, PFC Clinic, UR 2013, 335, Haufe-Index 3655149, Leitsatz erster, zweiter und dritter Gedankenstrich sowie Rn. 29, 33 und 35). Dem entspricht die bisherige Rechtsprechung des BFH (vgl. zuletzt BFH, Urteil vom 7.10.2010, V R 17/09, BFH/NV 2011, 865).
3. Ob eine Leistung aufgrund einer therapeutischen Zwecksetzung als Heilbehandlung steuerfrei ist, muss im Streitfall finanzgerichtlich nachgewiesen werden.
a) Im Bereich ästhetisch-chirurgischer Maßnahmen, die sowohl Heilbehandlungszwecken als auch bloß kosmetischen Zwecken dienen können, ist eine Einzelfallprüfung erforderlich.
b) Bei der Sachverhaltsaufklärung im finanzgerichtlichen Verfahren sind gemäß § 84 Abs. 1 FGO i.V.m. §§ 101 bis 103 AO die dort bezeichneten Zeugnisverweigerungsrechte zu beachten. Die Auskunft können danach insbesondere Ärzte verweigern, soweit es um das geht, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden ist (§ 102 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. c AO). Dieses Auskunftsverweigerungsrecht erstreckt sich bei Ärzten auf die Identität des Patienten und die Tatsache seiner Behandlung. Dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient steht es aber nicht entgegen, wenn anonymisierte Unterlagen für Zwecke der gerichtlichen Sachaufklärung verwertet werden.
c) Der auch finanzgerichtlich zu gewährleistende...