Informationelle Selbstbestimmung der Steuerpflichtigen: In einigen Staaten wie z.B. Norwegen ist das Steuergeheimnis bei weitem nicht so weitreichend wie in Deutschland ausgestaltet, da dort die Bürger sämtliche steuerliche Eckdaten ihrer Mitbürger und Arbeitgeber frei im Internet erfahren können. In Deutschland hat der Gesetzgeber das Steuergeheimnis in Rückkoppelung und aufgrund des verfassungsrechtlich verankerten informationellen Selbstbestimmungsrechts (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) umgesetzt. Die historische deutsche Vergangenheit zeigt, dass der Bürger vor einer Sammelwut und der (illegalen) Verwendung von Daten seitens des Staates aktiv geschützt werden muss; dieser Datenschutz inklusive des Steuergeheimnisses trägt effektiv zum Schutz des Bürgers und seiner Privatsphäre bei.
Das Steuergeheimnis hat auch wegen der Obliegenheit zur aktiven Mitwirkung bei der Besteuerung eine weitreichende Schutzfunktion, da der Steuerpflichtige umfassend seine wirtschaftlichen und privaten Verhältnisse offenbaren muss. Er hat nicht die Möglichkeit, pikante – wie z.B. die Annahme von Bestechungsgeldern – oder unangenehme Verhältnisse – wie z.B. die Trennung vom Ehepartner – auszulassen, da selbst gem. § 40 AO die strafbewehrten Einkünfte der Steuer unterworfen werden (vgl. Lindberg in Frotscher/Geurts, § 2 EStG Rz. 49 [03/2019]). Wegen des verfassungsrechtlich verankerten Selbstbelastungsverbotes (einführend Hartmann/Schmidt, StrafProzR, 6. Aufl. Rz. 124) müssen grundsätzlich solche steuerlichen Angaben, die nach dem Strafgesetzbuch strafbewehrt sein könnten, besonders geschützt werden, weshalb das Steuergeheimnis auch dem Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit dient. Wo der Steuerpflichtige wegen seiner Obliegenheit zur Offenbarung von inkriminierten Sachverhalten nicht schweigen oder sich bei der Sachverhaltsaufklärung herausnehmen kann, muss grundsätzlich eine weitere Verwertung über das Steuergeheimnis ausgeschlossen werden.
Strafverfolgungspflicht des Staates: Auf der anderen Seite ist der verfassungsrechtlich verankerte "staatliche Strafanspruch" (vgl. ausf. Beulke in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, Einleitung, 5. Aufl. 2023 Rz. 5 f.) zu beachten, nach dem die Geltung und Durchsetzung des materiellen Strafrechts zu beachten ist. Das darauf fußende Legalitätsprinzip gibt den Strafverfolgungsbehörden den verfassungsrechtlichen Befehl, Ermittlungen aufzunehmen und bei Vorliegen einer ermittelten Straftat Anklage zu erheben (vgl. ausf. Roxin/Schünemann, StrafProzR, 30. Aufl. 2022, § 14 Rz. 1 ff.); gesetzeswidriges Verhalten soll innerhalb des geltenden Rahmens nicht sanktionslos bleiben.
Das Steuergeheimnis steht somit in einem verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis, die gegensätzlichen Schutzrichtungen bzw. Funktionszuweisungen müssen im Rahmen der Konkordanz harmonisiert werden, wodurch die gegenpoligen verfassungsrechtlichen Interessen ausgleichen und eine in der Praxis rechtlich umsetzbare Lösung geschaffen werden sollen.
In diesem komplexen Spannungsverhältnis stehen die Normanwender wie z.B. die Beamten der Finanzverwaltung. Sie erhalten während laufender Außenprüfungen einen tiefen Einblick in die wirtschaftlichen Aktivitäten und Umstände des Steuerpflichtigen; sie müssen immer wieder entscheiden, ob sie Informationen an die Staatsanwaltschaft oder andere Strafverfolgungsbehörden weiterleiten dürfen.
Beispiel:
A prüft als Betriebsprüfer den Landwirt B. B produziert hauptsächlich Biogasstrom. Dieser wird staatlich subventioniert. A erkennt bei Überprüfung der Buchführung sofort, dass B erhebliche Mengen vergünstigten Dieselkraftstoff für seine Landmaschinen eingekauft hat, diese Mengen aber für die Nutzung seiner Maschinen überdimensioniert sind. Es entsteht augenscheinlich der Verdacht, der Diesel sei subventionswidrig für die Erzeugung von Strom über die Biogasanlage eingesetzt worden.
Die Abgrenzungsfragen des Steuergeheimnisses sind nicht rein akademischer Natur, sondern sie haben durch die Flankierung seitens des § 355 StGB auch eine beträchtliche Auswirkung auf die natürliche Person des handelnden Beamten. Dieser Straftatbestand sanktioniert die widerrechtliche Weitergabe von Steuerdaten mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe und darauf fußend die disziplinarische Verfolgung.