3.3.1 Rechtslage bis 30.06.2021
Das Mehrwertsteuersystem der EU sieht grundsätzlich für Lieferungen von Waren an Personen, die keine Unternehmer sind, mit Ausnahme von neuen Fahrzeugen (vgl. Abschnitt 3.2.2.3) eine Besteuerung nach dem Ursprungslandprinzip vor. Dies hängt mit der Geschichte des Mehrwertsteuersystems und den politischen Interessen der Mitgliedstaaten zusammen.
Wenn ein deutscher Unternehmer eine Warensendung in das VK ausführt, die keine innergemeinschaftliche Lieferung ist, bestimmt sich daher unabhängig von der Frage, ob der Lieferant oder der Kunde den Warentransport beauftragen, der Lieferort nach den allgemeinen Grundsätzen und liegt daher am Beginn der Beförderung oder Versendung und mithin in Deutschland (vgl. § 3 Abs. 6 UStG).
Beispiel
Der deutsche Autoteilehändler Müller KG wird von einem britischen Kunden gefragt, ob er ihm ein Ersatzteil für einen VW Golf I mit Verkaufspreis netto 100 EUR in das VK schicken könnte. Die Müller KG versendet nur gelegentlich Teile in andere Staaten und hat im entsprechenden Kalenderjahr im VK keine weiteren Kunden. Die Lieferung ist in Deutschland umsatzsteuerbar und mit 19 % deutscher Umsatzsteuer abzurechnen. Es besteht keine Registrierungspflicht im VK.
Allerdings entschied sich der Unionsgesetzgeber für eine abweichende Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip, wenn entsprechende Lieferungen ein größeres Volumen ausmachten, oder wenn es sich um verbrauchsteuerpflichtige Waren handelte. Die zugrunde liegenden Vorschriften für den innergemeinschaftlichen Versandhandel setzen für die Anwendung zunächst voraus, dass der Versand der Ware in einen anderen Mitgliedstaat durch den Lieferer oder für dessen Rechnung stattfindet (vgl. Art. 33 MwStSystRL).
Bei Lieferung verbrauchsteuerpflichtiger Waren (d. h. insbesondere Produkte wie Bier, Branntwein, Benzin) verlagert sich nach dieser Spezialvorschrift der umsatzsteuerliche Lieferort immer in den Bestimmungsmitgliedstaat (vgl. Art. 34 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL). Der Lieferant ist daher verpflichtet, sich lokal für Mehrwertsteuerzwecke zu registrieren und mit Mehrwertsteuer des Bestimmungslandes abzurechnen.
Bei anderen Warenlieferungen ist weitere Bedingung, dass der Lieferant entweder die vom Bestimmungsmitgliedstaat erlassene sogenannte Lieferschwelle (i. d. R. 100.000 EUR pro Kalenderjahr oder Äquivalent in Landeswährung, mit optionaler Schwelle von nur 35.000 EUR bei Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen) überschreitet oder freiwillig auf deren Anwendung verzichtet (vgl. Art. 34 Abs. 1 Buchst. b und c sowie Abs. 4 MwStSystRL). Auch in diesen Fällen besteht eine lokale Mehrwertsteuerpflicht. Deutschland hat die unionsrechtlichen Vorgaben in § 3c UStG umgesetzt. Die relevante Lieferschwelle in Deutschland beträgt 100.000 EUR.
Beispiel
Der deutsche Versandhändler Brunnen GmbH betreibt einen Onlineshop, in dem Kunden aus allen EU-Staaten Waren bestellen können. Der Umsatz im VK beträgt i. d. R. mindestens 1 Mio. EUR. Die Brunnen GmbH musste sich im VK umsatzsteuerlich erfassen lassen und besitzt eine britische Umsatzsteuernummer. Sie gibt lokal Umsatzsteueranmeldungen nach britischem Recht ab. Wenn nun ein britischer Kunde eine Sendung bei der Brunnen GmbH bestellt und den Versand in das VK beauftragt, muss die Brunnen GmbH prüfen, welcher britische Steuersatz anzuwenden ist, und entsprechend britische Umsatzsteuer abrechnen, anmelden und abführen.
3.3.2 Rechtslage ab 01.07.2021
Zum 01.07.2021 kommt es zu erheblichen Änderungen im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem. Dies hängt mit einer durch die Mitgliedstaaten verabschiedeten Reform des innergemeinschaftlichen Handels zusammen, die ursprünglich zum 01.01.2021 umzusetzen gewesen wäre, was wegen der Covid-19-Pandemie um sechs Monate verschoben wurde (vgl. Richtlinie 2017/2455 vom 05.12.2017, Richtlinie 2019/1995 vom 21.11.2019 und Beschluss des Rates 2020/1109 vom 20.07.2020). Ab diesem Stichtag vermindert sich die relevante Lieferschwelle auf einheitlich 10.000 EUR, kumuliert für alle grenzüberschreitenden Umsätze (vgl. Art. 33 i. V. m. Art. 14 und Art. 59c MwStSystRL n. F., sowie § 3c UStG i. d. F. des JStG 2020). Damit werden viel mehr Unternehmen, die am innergemeinschaftlichen Versandhandel teilnehmen, im jeweiligen Bestimmungsland mehrwertsteuerpflichtig. Weitere Änderungen beziehen sich auf die Behandlung direkt aus Drittstaaten eingeführter und an Kunden gelieferter Gegenstände, auf die Behandlung von Umsätzen über sog. elektronische Schnittstellen (v. a. Internet-Marktplätze) u. v. m.
Zugleich hat der Unionsgesetzgeber allerdings beschlossen, die Sonderregelung des Mini-One-Stop-Shop-Verfahrens, die bislang nur für bestimmte Dienstleistungen an Nichtunternehmer anwendbar war (vgl. Art. 369a ff. MwStSystRL), auf den Versandhandel auszudehnen (vgl. Art. 369b MwStSystRL n. F.). Dies gestattet in vielen Fällen den Unternehmen, anstelle einer lokalen Registrierung ihre steuerlichen Pflichten im Sitzstaat zu erfüllen. Es bleibt allerdings bei der Verpflichtung, Mehrwertsteuer des Bestimmungslan...