1. Schätzungsbefugnis
Nach § 162 Abs. 2 AO gilt dies insb. dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine hinreichende Aufklärung zu geben vermag oder der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können.
Bei buchführungspflichtigen Steuerpflichtigen besteht folglich die Schätzungsbefugnis bereits dann, wenn die erforderlichen Aufzeichnungen nicht den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (vgl. §§ 140 bis 148 AO) entsprechen. Häufig geht die Finanzverwaltung schon bei kleineren Unstimmigkeiten von einer Schätzungsbefugnis aus.
2. Schätzungsrahmen
Keine Straf- oder Mondschätzungen: Der Schätzungsrahmen wird in der aktuellen Fassung des § 162 AO nicht näher definiert. Allerdings sollen im Rahmen einer Schätzung alle Umstände berücksichtigt werden, die für die Schätzung von Bedeutung sind (§ 162 Abs. 1 Satz 2 AO). Damit sind sog. Straf- oder Mondschätzungen, bei denen das objektiv denkbare Ergebnis erheblich überschritten wird, grundsätzlich unzulässig (BFH v. 6.8.2018 – X B 22/18, BFH/NV 2018, 1237 = AO-StB 2018, 364 [Anm. Nöcker] ). Ein darauf beruhender Steuerbescheid ist regelmäßig nichtig (§ 125 AO).
Gleichwohl kann das FA bei einer Schätzung den denkbaren Rahmen vollständig ausschöpfen. Die Grenze zu einer Mondschätzung ist dabei flexibel und kann durch eine sachgerechte Begründung letztlich zu Lasten des Steuerpflichtigen verschoben werden. Fehlerhafte Schätzungen sind allerdings nur rechtswidrig und müssen daher im Regelfall mit den Rechtsbehelfen der AO angegriffen werden. Nur dann, wenn es sich offensichtlich um eine Willkürschätzung handelt, tritt die Rechtsfolge der Nichtigkeit ein (BFH v. 20.1.2022 – X B 132-133/20, BFH/NV 2022, 734 = AO-StB 2022, 247 [Anm. Lemaire]).
Generell besteht im Steuerrecht jedoch das Gebot der Ausschöpfung der Beweismittel. Das gilt über § 162 Abs. 1 Satz 2 AO auch für Schätzungen. Dieses Gebot kann z.B. dazu führen, dass auch Aufzeichnungen, die gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung verstoßen, gleichwohl der Besteuerung zugrunde gelegt werden können, wenn am Ergebnis der Buchführung keine durchgreifenden Bedenken bestehen.
3. Schätzungsarten und -methoden
Ausgehend vom Sinn einer Schätzung, nämlich die konkreten Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, unterscheidet man grundsätzlich zwischen einer Vollschätzung und Teil- bzw. Ergänzungsschätzungen. Welche Schätzungsart im Einzelfall zutreffend ist, bestimmt sich nach den aktuellen Erkenntnissen des FA.
Bei einer Vollschätzung werden alle Besteuerungsgrundlagen einer bestimmten Periode oder einem bestimmten Zeitpunkt durch eine Schätzung ermittelt. Klassisches Beispiel ist hier eine Vollschätzung des Gewinns einer gewerblichen Tätigkeit, weil keine verwertbare Buchführung vorliegt.
Bei Teil- oder Ergänzungsschätzungen werden lediglich Teile der Bemessungsgrundlagen geschätzt. Dies dokumentiert sich i.d.R. über sog. Sicherheitszuschläge, mit denen mutmaßliche Fehlbeträge ausgeglichen werden sollen. Hierbei geht man davon aus, dass z.B. in der eigentlich schlüssigen Buchführung gewisse Betriebseinnahmen nicht erfasst wurden. Ein schwerwiegendes Indiz dafür sind Mängel in der Kassenführung bei Unternehmen, die noch bedeutende Geschäfte über Barzahlungen abwickeln (z.B. im Bereich der Gastronomie).
Im Rahmen von Außenprüfungen wird regelmäßig untersucht, wie sich die Ertragssituation eines Betriebes entwickelt hat. Erster Ansatzpunkt ist dabei häufig ein äußerer Betriebsvergleich. Dabei wird versucht, die Situation des geprüften Betriebes durch den Vergleich von Kennzahlen transparent zu machen. Diese Kennzahlen stammen regelmäßig von Vergleichsbetrieben und sind nur dann wirklich aussagekräftig, wenn eine absolute Vergleichbarkeit (Gleichartigkeit) zwischen Vergleichsbetrieb und geprüftem Betrieb besteht. Den von der Finanzverwaltung aufgestellten und allgemein veröffentlichen Richtsatzsammlungen (vgl. für 2021: BStBl. I 2022, 4) für bestimmte Gewerbebetriebe kommt lediglich eine Indizwirkung zu.
Beraterhinweis Kann die Buchführung der Besteuerung wegen gravierender Mängel nicht zugrunde gelegt werden und fehlen auch die erforderlichen Daten für eine Geldverkehrsrechnung oder eine Nachkalkulation, so kann das FA oder das FG im Rahmen seiner eigenen Schätzungsbefugnis gleichwohl eine Schätzung anhand der Richtsatzsammlung des BMF als externem Betriebsvergleich vornehmen (FG Hamburg v. 8.12.2021 – 2 K 50/20, juris). Allerdings ist diese Frage höchstrichterlich noch nicht geklärt und inzwischen Gegenstand eines Revisionsverfahrens (Az: X R 23/21).
Interessanter ist hier schon der innere Betriebsvergleich, bei dem Vorjahreswerte herangezogen werden und über tabellarische Aufstellungen Unregelmäßigkeiten sichtbar gemacht werden können. Häufig wird auch das Instrument der Nachkalkulation angewandt. Beliebt bei Außenprüfern ist auch der sog. Zeitreihenvergleich oder die Quantilschätzung.
Der sog. Chi-Quadrat-Test und auch die Ziffernanalyse nach ...