Dipl.-Finanzwirt Helmut Bur
Leitsatz
Die gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO bestehende Pflicht des Finanzamts, im Einspruchsverfahren die Sache in vollem Umfang erneut zu überprüfen, findet ihre Grenze in den Umständen des Einzelfalles. Erlässt das Finanzamt in einem Massenrechtsbehelfsverfahren einen geänderten Bescheid, mit dem der angefochtene Einkommensteuerbescheid wegen beim BVerfG oder beim BFH anhängiger Musterverfahren für vorläufig erklärt wird, ist eine Änderung des geänderten Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auch dann noch möglich, wenn dem Finanzamt die neuen Tatsachen zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheids bereits bekannt waren.
Sachverhalt
Das Finanzamt erließ am 26.6.2006 einen erstmaligen Einkommensteuerbescheid für 2004. Dagegen legte die Steuerpflichtige am 7.7.2006 Einspruch ein. Sie beantragte die Berücksichtigung eines Entlastungsbetrages für Alleinerziehende gemäß § 24 b EStG. Darüber hinaus bat sie um Ruhen des Verfahrens hinsichtlich 4 weiterer Punkte aufgrund anhängiger Musterverfahren beim BVerfG bzw. beim BFH: Am 13.7.2006 erließ das Finanzamt einen Änderungsbescheid, in dem der beantragte Entlastungsbetrag berücksichtigt und dem Antrag auf Ruhen des Verfahrens entsprochen wurde. Mit Schreiben vom 23.4.2009 teilte das Finanzamt der Steuerpflichtigen mit, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht mehr in Betracht komme. Es stellte der Steuerpflichtigen jedoch in Aussicht, hinsichtlich einiger im Einzelnen aufgeführter Punkte "im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm" die Steuerfestsetzung vorläufig vorzunehmen. Am Ende des Schreibens heißt es: "Die für Sie in Betracht kommenden Vorläufigkeitspunkte werden programmgesteuert für jeden Veranlagungszeitraum ermittelt. Sie werden gebeten, bis spätestens 10.05.2009 mitzuteilen, ob Sie mit der Erledigung des o.g. Einspruchs in vorgenannter Weise einverstanden sind." Mit Bescheid vom 15.6.2009 verfuhr das Finanzamt wie angekündigt und nahm entsprechende Vorläufigkeitsvermerke in den Bescheid auf. Im Übrigen blieb dieser - auch betragsmäßig - unverändert.
Am 9.3.2010 erließ das Finanzamt einen geänderten Einkommensteuerbescheid 2004, in dem eine Prüfungsmitteilung vom 6.3.2008, resultierend aus einer beim Arbeitgeber der Steuerpflichtigen durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung, ausgewertet wurde; angesetzt wurde hierbei ein geldwerter Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an die Steuerpflichtige. Gegen den geänderten Bescheid legte die Steuerpflichtige Einspruch ein. Sie führte aus, zum Zeitpunkt der Änderung des Einkommensteuerbescheides 2004 am 15.6.2009 seien die Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung dem Finanzamt bereits bekannt und somit bei der erneuten Änderung am 9.3.2010 nicht mehr neu gewesen. Eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen neuer Tatsachen scheide daher aus.
Entscheidung
Nach Auffassung des FG hat das Finanzamt zu Recht im Bescheid vom 9.3.2010 die Ergebnisse der Prüfungsmitteilung vom 6.3.2008 berücksichtigt. Eine Änderung der Steuerfestsetzung konnte gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 AO erfolgen. Das FG führt aus, dass zwar auch ein Änderungsbescheid ein Verwaltungsakt sei, bei dessen Erlass das Finanzamt alle ihm bekannten Tatsachen berücksichtigen muss, die zu einer höheren Steuer führen und verfahrensrechtlich in die geänderte Festsetzung einbezogen werden können. Diese Beurteilung soll jedoch nach Auffassung des FG nicht gelten, wenn das Finanzamt in einem Massenrechtsbehelfsverfahren einen geänderten Bescheid erlässt, mit dem der angefochtene Einkommensteuerbescheid wegen beim BVerfG oder beim BFH anhängiger Musterverfahren für vorläufig erklärt wird. Zu einer umfassenden Überprüfung des angefochtenen Steuerbescheids - so auch unter dem Gesichtspunkt der Auswertung der fraglichen Prüfungsmitteilung - sei das Finanzamt nicht verpflichtet gewesen. Nach zuvor bereits erfolgter Teilabhilfe wegen eines anderen Punktes mit Bescheiden waren im Einspruchsverfahren lediglich noch einige Punkte betreffend verschiedene Massenrechtsbehelfe offen. Das Einspruchsverfahren ruhte danach, um der Steuerpflichtigen - in Abhängigkeit vom Ausgang der anhängigen Musterverfahren - eine spätere Änderungsmöglichkeit nicht abzuschneiden. Eine umfassende Überprüfung des betreffenden Steuerbescheides hatte nach Auffassung des FG in diesem Verfahrensstadium durch das Finanzamt nicht mehr zu erfolgen.
Hinweis
Im Einspruchsverfahren besteht gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO zwar grundsätzlich die Pflicht des Finanzamts, die Sache in vollem Umfang erneut zu überprüfen. In den Fällen des sog. Masseneinspruchs, wie er vielfach auch von zahlreichen anderen Steuerpflichtigen eingelegt wird, sind die Ermittlungspflichten des Finanzamts allerdings regelmäßig auf den Antrag begrenzt (vgl. hierzu FG München, Urteil v. 26.9.2006, 13 K 4282/02, EFG 2007 S. 237, rkr.). Das FG Baden-Württemberg hat im Urteilsfall die Revision zur Fortbildung des Rechts gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen. Das Revisionsverfahren wird beim BFH unter dem Az. V...